Fünf Minuten am Tag – fünf Leben. Wenn Du sie willst.

Am Düsseldorfer Schauspiel feiert „Die fünf Leben der Irmgard Keun“ von Sarah Nemitz und Lutz Hübner Premiere. Ein Stück, das Perspektiven irritiert und den Voyeurismus im Gedächtnistheater mit Wucht in seine Schranken weist. Kantig und traurig. Politisch. Leidenschaftlich.

Wie erzählst Du ein Leben, deren Hauptakteurin sich stets neu erfand, erfinden musste? Was schreiben wir – zumal für die Bühne – über Irmgard Keun: 1905 in Köln geboren, Schauspielerin, jung gefeierte Autorin sperriger „Unterhaltungsliteratur“, bald von den Nazis verfemt, eine Schreibende im Exil, unter Schreibenden. Welche Geschichte ist es, die wir hören wollen über eine nach Nazi-Deutschland Zurückgekehrte, eine Versteckte? Wie folgen wir den Spuren einer nach 1945 vergessenen, aus dem bürgerlichen Spiel genommenen, dann über Nacht wiederentdeckten Beobachterin und literarischen Analytikerin einer unfreien, sexistischen, menschenfeindlichen Gesellschaft in der Weimarer Republik und im (post)nazistischen 20. Jahrhundert?

Welche Geschichte über welches Leben eines Menschen, dessen Thema die Selbstbestimmtheit war: in seinem Ringen darum. In seinem Mut zur Entscheidung für Autonomie. In deren Verlust.

Schau eines Lebens

Das erfahrene Dramatiker*innen-Duo Lutz Hübner und Sarah Nemitz findet für „Die fünf Leben der Irmgard Keun“ eine Erzählung und gibt dem schwierigen Stoff Worte: Ihre Figur Irmgard Keun wird selbst sprechen. Sie kommentiert, was andere aus dem Porträt ihres Lebens machen möchten. Denn „die Keun“ bekommt Gelegenheit sich einzumischen.

Der Plot ist scheinbar rasch erzählt: Der WDR produziert eine Vorabend-Doku-Serie – über Schriftsteller-Persönlichkeiten im Exil. Es sollen fünf Folgen werden. Eine davon gilt Irmgard Keun. Ihre Bewundererin, die Assistentin Sophie Behringer (Gesa Schermuly), machte den Vorschlag, die erst jüngst wiederentdeckte Autorin zu porträtieren.

Wie spät es ist? Es ist 1977. In Bocklemünd. Das Film-Set ist wohlvorbereitet, das Drehbuch so parat wie banal: zwei aufgekratzte Schauspielerinnen verkörpern die junge wie die ältere Autorin (Tabea Bettin und Pauline Kästner als Schauspielerinnen Hilda Gereon und Elly Meissner). Ihre Weggefährten – der Schriftsteller Joseph Roth (Raphael Gehrmann und in der Rolle des Schauspielers Horst B. Sauer: Rainer Philippi) oder der ‚Verlobte‘ im Exil – scheinen passend besetzt.

Die Textproben sind zu vernachlässigen. Es muss flott gehen, das Budget ist knapp. Die Dialoge sind effizient gestrichen. Nur im Voice Over über szenischen Darstellungen soll die Lebensgeschichte der von den Nazis ins Exil getriebenen, freilich „attraktiven“ Literatin „Irmgard Keun“, mehr Figur denn Mensch, erzählt werden. Das Ensemble, Keuns jüngere Ichs oder der gespielte Joseph Roth, sind reine Dekoration. Die Experten-O-Töne seien es, so WDR-Regisseur Lothar Dörner (Thiemo Schwarz), die der Kurz-Doku ihren Sinn gäben: die Fernsehzuschauer*innen mit einem lehrreichen Fernsehabend zu bilden und zu unterhalten.

Bildstörung

Die Aufnahmen könnten am nächsten Tag abgeschlossen werden. Wäre da nicht „die Keun“ persönlich (Claudia Hübbecker). Ihr Verlag hat sie angekündigt. Sie wird deutlich länger bleiben, als es Regisseur Dörner lieb ist. Und sie stört, kaum dass sie das Studio betritt. Sie weiß das. Keun: »Vielen Dank, dass ich hier sein darf. Ich hoffe, dass ich durch mein leibhaftiges Erscheinen nicht allzu viele Illusionen und Recherchen ruiniere. Sie haben sich sicher ein Bild von mir gemacht, und es gibt gute Gründe, dass dies in der Bibel von höchster Stelle untersagt wurde. Andererseits habe ich nicht vor, Sie lange aufzuhalten: Sie haben zu tun, und ich weiß, dass Autoren beim Film immer ein wenig stören, selbst wenn sie das Drehbuch geschrieben haben. Aber vielleicht bin ich in diesem speziellen Fall eher eine Reliquie. Tragen Sie mich einmal in einem gläsernen Sarg ums Studiogelände, und dann setzen sie mich wieder ins Taxi.«

Daraus wird nichts. Irmgard Keun bleibt über Nacht am Set, im Dialog mit dem Hausmeister Jupp (Rainer Philippi), mit der Assistentin Sophie und – mit ihrer eigenen Geschichte. In einer phantastischen Nacht schreitet sie durch Zeiten und Orte, begegnet in Ostende an der belgischen Küste Joseph Roth. Sie schreiben, sind sich nah. Doch Roth ist eifersüchtig. Irmgard Keun soll sich mit Ernst Toller vergnügt haben, dem immer nah am Selbstmord gebauten. 1938 entschließt sich „die Keun“, für einen Monat in die USA zu gehen. Dort wartet der Arzt Arnold Strauss auf sie, geflüchtet aus Berlin als antisemitisch Verfolgter. Er schickte ihr Geld, sieht sich als ihren Verlobten. Doch Irmgard Keun bleibt nicht. Selbst unter Lebensgefahr kehrt sie lieber nach Europa zurück als »dankbar und demütig« an der Seite eines eitlen Bewunderers im Exil zu leben.

Wie sie 1940 an einen falschen Pass gelangt, der ihr mit Unterstützung eines SS-Mannes die Rückkehr nach Köln ermöglicht, kann das Filmteam am nächsten Morgen nicht aus ihr herauslocken. Allerdings werden sie Zeug*innen von Irmgard Keuns erheblichem Alkoholismus. Kaum eine Sekunde hält sie kein Champagnerglas in Händen. So rücken die Gespenster der Gegenwart bis an das Filmset heran: Als es 1966 ist, landet „die Keun“ in der Rheinischen Landesklinik, wird entmündigt. In der Begegnung mit ihrem Arzt beteuert sie, über ihr Leben nachdenken zu wollen, nicht heute zwar, aber »nächstes Jahr«. Mit seinen Patient*innen aber will sie sich nicht verwechselt sehen. Der Psychiater empfiehlt ihr allerdings zur Heilung den Rückblick. Das Wissen um die Vergangenheit brauche sie für die Zukunft. Doch Keun gibt den Kelch zurück: Ob er das nicht »den ganzen Nazis sagen [könne] die überall noch in Amt und Würden sind? Haben Sie denn gefragt, was Ihre Kollegen bis Kriegsende so getrieben haben? Haben die alle einen Blick zurückgeworfen? Ich glaube nicht.«

Inzwischen geht Keun dem WDR-Team gehörig auf und an die Nerven. Schauspielerin Elly Meissner stellt sich die Sinnfrage: Ob sie – die Schauspielerin, als Frau, als Alleinerziehende – immer liefern, immer gestalten müsse, nicht ausruhen dürfe, nicht erschöpft sein? Nicht leer und fragend? Ob sie nicht schon längst oder immer noch wie „die Keun“ sei, die dem Kulturbetrieb einen Haken geschlagen und zugleich an ihren eigenen Ansprüchen zerbrochen sei? Der Druck überträgt sich, als vergiftetes Geschenk: Wenn Irmgard Keun auf Gedeih und Verderb die Wahrheit über ihr Leben nicht preisgeben wolle, dürfe sie selbst das Drehbuch schreiben. Doch nicht Erlösung sondern Auflösung folgt, der Dreh wird abgebrochen. »Wir nehmen die Folge raus. Brauchen wir jetzt nicht mehr,« komplimentiert der Regisseur „die Keun“ ins Taxi. Er drücke die Daumen für den Schreibprozess und dafür, dass der Sender sein »OK von oben« gebe. »Werde ich wieder schreiben?«, fragt Keun. Sie ist müde, sagt sie. Und geht.

Leben ohne Nullpunkt

In „Die fünf Leben der Irmgard Keun“ geben sich die Erzählebenen die Klinke in die Hand. Schwindelerregend ist der Sprung zwischen Werk-Kontext, der Autorinnenbiographie und ihrem literarischen Schaffen, der messerscharfen Textarbeit Lutz Hübners und Sarah Nemitz‘, dem Wissen, das das Publikum mitbringt über Irmgard Keuns radikale Entschiedenheit, die eigene Biographie einer öffentlichen Beurteilung zu entziehen.

Einen Anker legt die Figur „der Keun“ selbst. Durch die Zeiten führt sie wieder und wieder mit der immer gleichen Frage: Wie spät ist es? Nicht Uhrzeiten, Jahreszahlen sind die Antworten. Sie sind als Bruchkanten Orientierungspunkte in den „Amplituden“ (Lutz Hübner im Programmheft) eines Lebens ohne Nullpunkt.

Nicht nur die Höhen und Tiefen, auch die Kantigkeit Irmgard Keuns legen Hübner und Nemitz frei. So lenken sie etwa unsere Blicke auf feministische Positionen im Leben der Schriftstellerin, auf die Bedeutung, die Geschlechterungerechtigkeit für die (Un)Sichtbarkeit weiblicher Künstlerbiographien hat. Ihr Text erinnert zugleich an Keuns konsequentes Widerstreiten gegen Nazis und Faschismus, an ihre unermüdliche Stimme gegen alte und neue Rechte im postnationalsozialistischen Deutschland. Immer wieder blitzt eine Vergangenheit auf, die nicht vergeht. Keun klagt an – auch: sich selbst. Was bringt es, als Schriftsteller*in etwa ein »soziales Elend« zu beschreiben, »aus dessen Humus die Nazis kamen« und zu hoffen, mit Worten etwas zu bewirken, anstatt »eine Waffe zu nehmen und Hitler zu töten, solange das noch möglich war«? Doch nicht einmal am Füller gekaut hätten sie, als ein Handeln notwendig gewesen wäre.

Gegen den Bombast

Ein messerscharfes Instrument ist für „Die Fünf Leben der Irmgard Keun“ immer wieder: die Sprache. Sie verweigert sich der romantischen Schwärmerei für Idole. Die Dialoge sind gestanzt, die Vehemenz des Eigensinns schleicht sich in der Figur der Irmgard Keun nicht an. Claudia Hübbecker füllt die Rolle mit Schwere und Angriffslust, mit Traurigkeit und Renitenz. Das Publikum erlebt sie und das Ensemble dabei sehr direkt, ein Wegducken vor der Wucht der Worte und Bühnenpräsenz ist den Zuschauenden kaum möglich. Denn Regisseurin Mina Salehpour hat sie unmittelbar an den Arbeitsplatz des Theaters eingeladen: Rund 200 weiße Drehstühle stehen auf der Bühne bereit, montiert auf einer rotierende Scheibe, deren Segmente sich heben und senken, wenn „die Keun“ etwa das Exil in den USA erlebt. Umgeben ist das Tableau von einem Horizont- und Kulissenrund, mal durchsichtig mal begrenzend. Die Schauspieler*innen bewegen sich zwischen ihrem Publikum – ihren Adressat*innen. Doch diese bleiben unangesprochen, sind mal ein bloßes Hindernis, mal die Wegmarken eines Parcours. Kaum hat man sich an die eigene Präsenz auf der Spielfläche gewöhnt, hebt sich der eiserne Vorhang und gibt den Blick frei in den leeren Theatersaal. Dort sitzt Irmard Keun, trinkt, beobachtet und kommentiert, was ihr Leben betrifft.

Mit ihrer Regiearbeit irritiert Mina Salehpour Publikumsroutinen und verstört Perspektivengewohnheiten. Vor allem aber sorgt sie dafür, dass die Zuschauer*innen das Stück alleine verfolgen, als Beobachtende, nicht als Teilnehmende. Zeug*innen, die sich untereinander nicht austauschen können. Die Stühle stehen zu entfernt voneinander. Der Effekt ist beeindruckend: Wir sind Zaungäste inmitten eines merkwürdigen Schaukastens, begegnen einer sehr eigenen Art des isolierten Angefasstseins. Die Zuschauenden sind auf sich allein gestellt in ungewohnter Nähe zu den Schauspieler*innen, erleben Durchsichten und Kulissenschieberei, blicken auf die Illusionen von Wolken und Freiheit, erleben das Gefühl von wankendem Grund unter den Füßen.

Die alles ist aufwändig. Doch „Die fünf Leben der Irmgard Keun“ wehrt sich gegen jeden Bombast. Die Sprache kriegt jeden Schmalz von Abendrot und Sehnsucht klein.

Fünf Minuten gut

So bleibt das Stück haften in harmonischer Sperrigkeit. Es klingt nach auch lange nach dem begeisterten Applaus des Premierenpublikums noch. Die Stiche der Sprache sind zu pointiert und gewaltig, als dass sie leicht zu vergessen wären. Was sagte Keun darüber, was Menschen von Menschen zu erwarten haben? Was sie sich antun? Wie sie sich aus der Bahn bringen oder beeinflussen können in ihren vielen Leben? Was genau darin sie selbst entscheiden und wie sie sich begegnen können?

Es heißt: »Jeder Mensch ist fünf Minuten am Tag gut. Oder er will es zumindest sein. Und wenn sie Uniform tragen, wollen sie auch noch wichtig sein. Und wenn sie gut und wichtig sein können, tun sie alles für dich. Man muss sie nur an der richtigen Stelle packen.« Am Ende bleiben die Leben der Irmgard Keun beides: aktiv und passiv, entschieden und abhängig zugleich. Zuletzt ist es Zeit, zu gehen, sich Autoritäten, Erwartungen, Uniformen und Konventionen zu entziehen. Zu einem mitunter sehr hohen Preis.

Fanny Schneider

Nächste Aufführungen am 27.01., 05.02., 12.02., 23.02. und 01.03.2023 – im Großen Haus des Schauspiel Düsseldorf. „Die fünf Leben der Irmgard Keun“ kann auch zusammen gesehen werden mit der szenischen Lesung zu Keuns Roman „Das kunstseidende Mädchen“ – mit Pauline Kästner, im Foyer des Schauspielhauses.