„Anton Reiser“ im Goethe-Museum

Das Goethe-Museum zeigt noch bis Ende des Monats eine Ausstellung über Karl Philipp Moritz (1756-1793). Nach einer von dessen Romanfiguren hatte sich Rio Reiser benannt. Grund genug, sich mit diesem vielseitigen Autor der Aufklärung zu beschäftigen.

„Ich komm aus der Wüste aus Stahl und Glas/ Ich komm aus der Wüste aus Angst und Hass/ Wo die Menschen verdursten auf der Suche nach Liebe/ Krank vor Verzweiflung und vom Warten müde.“ Den „Ton, Steine, Scherben“-Song haben viele noch im Ohr. In „Der Traum ist aus“ wird aber nicht nur der Ist-Zustand beklagt, es heißt dort auch: „Ich hab geträumt, der Krieg wär vorbei/ Du warst hier, und wir waren frei/ Und die Morgensonne schien./ Alle Tür’n waren offen, die Gefängnisse war’n leer/ Es gab keine Waffen und keine Kriege mehr ...“ Rio Reiser hieß eigentlich gar nicht Rio Reiser. Das Pseudonym hatte er sich zugelegt, als er 1977 im Film „Jonny West“ die Hauptrolle spielte. Den Namen hatte er dem Roman „Anton Reiser“ von Karl Philipp Moritz entlehnt. Die Romanfigur träumt davon, Schauspieler zu werden. Rio dachte sich: passt doch, da auch er nun (Film-)Schauspieler war. Den Roman fand er so klasse, dass er den Namen beibehielt.

Ausstellungen über einen Autor sind generell problematisch. Statt über Vitrinen gebeugt lese ich lieber zuhause gemütlich im Liegen. Eine Ausstellung kann aber Impulse zu einer Lektüre geben, und diese tut es: Aus der Stadtbibliothek hatte ich mir einiges von und über Moritz besorgt, fand im Netz den „Anton Reiser“ als (kostenloses) Hörbuch und unter deutschestextarchiv.de gibt es die vier Bände als Faksimile-Druck. Im Folgenden sozusagen ein Bericht darüber, was die Ausstellung in meinem Kopf anstieß.

Der Roman „Anton Reiser“

In der Einleitung zum ersten Band des vierbändigen Werks stellt Moritz klar: „Dieser psychologische Roman könnte auch eine Biographie genannt werden, weil die Beobachtungen größtentheils aus dem wirklichen Leben genommen sind.“ Der Roman stimmt tatsächlich in weiten Teilen mit Moritz’ Lebensgeschichte überein. „Nie zuvor und selten danach stellte ein Autor so detailreich und nachvollziehbar dar, wie ein Mensch seelisch zerrüttet wird, bloß weil er dem Unglück der Verhältnisse unterworfen ist“, heißt es in einer Kritik von 2006. Im jungen Anton würden „Heuchelei, Selbstverachtung, Haltlosigkeit und Schwärmerei geradezu gezüchtet durch bigotte Eltern und geizige Lehrherren, durch züchtigende Lehrer, seltsame Prediger und schließlich durch die Literatur“, die für Anton „Rettungsanker und Verhängnis zugleich“ wird. Antons Vater ist fanatischer Anhänger einer pietistischen Sekte, deren Mitglieder das Bestreben haben, „in ihr Nichts wieder einzugehen, alle Leidenschaften zu ertödten, und alle Eigenheit auszurotten.“ Bis hin zur Physiognomie: „In allen Mienen glaubte man Ertödtung und Verleugnung, und in allen Handlungen Ausgehen aus sich selbst und Eingehen ins Nichts zu lesen.“ Der Roman erzählt aber auch vom Widerstand gegen diese Doktrin, wenn auch von seinem letztendlichen Scheitern. Als Anton eine seiner kleinen Fluchten – die Schauspielerei – zu seinem Beruf machen will und nun vom großen Ruhm träumt, geht dies schief. Hier weicht der Roman von Moritz’s Lebensweg ab, denn der Autor fand vielseitige Anerkennung, erhielt am Ende sogar eine Professur an der Berliner Akademie.

Das „Magazin für Erfahrungsseelenkunde“

Moritz’s vierbändiges, von 1785 bis 1790 erschienenes Roman-Epos trägt den Untertitel „Ein psychologischer Roman“. Ein Vorabdruck in Auszügen war im 1783 gegründeten „Magazin für Erfahrungsseelenkunde“ erschienen. „Reisers Leidensgeschichte“, erläutert Moritz dort, solle das bewusst machen, „was bei vielen Menschen ihr ganzes Leben hindurch, ihnen selbst unbewusst, und im Dunkeln verborgen bleibt, weil sie Scheu tragen, bis auf den Grund und die Quelle ihrer unangenehmen Empfindungen zurückzugehen“. Das „Magazin für Erfahrungsseelenkunde“ erschien als „Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte“, wie der Untertitel lautet, und wurde von Moritz gemeinsam mit Carl Friedrich Pockels und dem Philosophen Salomon Maimon heraus gegeben. Das Besondere: Leser*innen wurden zur Mitarbeit aufgerufen. Moritz habe, heißt es in einer Rezension, „mit der Gründung seines Magazins die bürgerliche Öffentlichkeit zur Beteiligung an einer großen Selbsterfahrungsgruppe eingeladen, in der jeder aufgefordert war, den anderen von seinen Träumen, Krankheiten oder Heilungserlebnissen zu erzählen.“

Die Intention der Herausgeber war, „einen Beitrag zur Selbstaufklärung des Menschen zu leisten.“ Dabei standen genaue (Selbst-)Beobachtung und Beschreibung des gewöhnlichen Alltagslebens im Vordergrund. Damit habe Moritz „ein dialogisches Prinzip psychologischer Erfahrungsbildung“ begründet, „bei der nicht Experten den Laien gegenüberstehen, sondern jedermann Experte seines Erfahrungsbereiches ist.“ Während eine missverstandene Aufklärung sich im 20. Jahrhundert damit abgab, die alten Götter durch neue – allen voran die „Götter in Weiß“ – zu ersetzen, wobei im Bereich des Psychischen Sigmund Freud als Oberguru fungierte, hatte Moritz mit seinem dialogischen Prinzip im 18. Jahrhundert einen tatsächlich revolutionären Ansatz verfolgt.

Moritz stand der Sucht, „für alles Unverständliche gleich Erklärungen zu liefern“, kritisch gegenüber. Er setzte vielmehr auf genauen Bericht konkreter Erlebnisse. In einem anderen Zusammenhang nahm er einmal entschieden Partei für ein authentisches Erzählen, das „sorgfältig alle abstrakten und metaphysischen Begriffe meidet“. Deshalb präsentierte Moritz seine Erkenntnisse über das eigene und das fremde Seelenleben auch in Form eines Romans statt in einem mehrbändigen wissenschaftlichen Wälzer. Moritz sei „nicht an strikten Grenzziehungen, sondern an den fließenden Übergängen zwischen psychischer Gesundheit und Krankheit interessiert“, wird in einer weiteren Rezension hervorgehoben. Moritz betone, „“dass ein jeder Mensch nach dem ihm eigenen Maß seiner Seelenfähigkeiten, auch seinen eigenen Seelengesundheitszustand habe.“

Das Pietistennest Wuppertal und der „Anton Reiser“

Kannte Friedrich Engels den Roman? Die Parallelen beider Leben sind verblüffend. Anton wird im Alter von zwölf Jahren vom Vater zu einem pietistischen Glaubensbruder in die Lehre geschickt. Dessen Strafpredigten drehen sich stets darum, „dass er seine Leute zum Eifer und Treue in seinem Dienste ermahnte, wenn sie nicht ewig im höllischen Feuer brennen wollten.“ Vor allem: „Seine Leute konnten ihm nie genug arbeiten.“

Engels wuchs gleichfalls in einem pietistischen Elternhaus auf. Gemäß dem Leitspruch „Ora et labora!“ – Bete und arbeite! – nahm der Vater ihn mit 16 vom Gymnasium und ließ ihn im Kontor der Baumwollspinnerei – einer Niederlassung der Engelswerke – schuften. In den „Briefen aus dem Wuppertal“ schildert Engels die in diesem Tal liegenden Städte als ein Eldorado des Pietismus. In Elberfeld würden „von 2500 schulpflichtigen Kindern 1200 dem Unterricht entzogen und wachsen in den Fabriken auf“. Es sei Tatsache, „daß unter den Fabrikanten die Pietisten am schlechtesten mit ihren Arbeitern umgehen, ihnen den Lohn auf alle mögliche Weise verringern […].“

Dem jungen Engels fiel aber auch auf, dass die zur Kinderarbeit Gezwungenen sich heimlich mit dem „Eulenspiegel“, den „Sieben Schwaben“ und den „Schildbürgern“ vergnügten. 1839 erschien die Artikelserie „Die Deutschen Volksbücher“ des damals 18-Jährigen. Ein gutes Volksbuch, heißt es da eingangs, habe die Aufgabe, „dem geplagten Lehrjungen seine elende Dachkammer in eine Welt der Poesie, in einen goldenen Palast umzuzaubern und ihm sein handfestes Liebchen in Gestalt einer wunderschönen Prinzessin vorzuführen.“ Beim „Sträuben gegen den Druck der Aristokratie“, dem „Kampf des Gedankens mit dem Pietismus, der Heiterkeit mit der Askese“ könne ein gutes Volksbuch durchaus befeuernd wirken (mit Hegel und Marx hatte Engels’ frühe Parteinahme fürs Proletariats nachweislich nichts zu tun). Die Erkenntnis, dass Literatur Widerstandspotenziale wecken kann, findet sich schon im „Anton Reiser“. Im Alter von sieben Jahren entpuppt sich Anton bereits als ein wahrer Eulenspiegel. In frommen Schriften hatte er viel von dem „Jesulein“ gelesen, unter dem er sich einen „Knaben, noch etwas kleiner wie er“ vorstellte. Und er meinte, dass dieses Jesulein, „sich nicht weigern werde, mit ihm zu spielen und also auch nichts dawider haben werde, wenn er ihn ein wenig auf den Schiebkarn herum fahren wollte.“ Anton empfand es geradezu als „ein sehr großes Glück, eine so hohe Person“ herumzufahren „und ihr dadurch ein Vergnügen zu machen.“ Und da eben diese Person „ein Geschöpf seiner Einbildungskraft war, so machte er auch mit ihr, was er wollte, und ließ sie oft kürzer, oft länger an dem Fahren Gefallen finden.“ Die Passage endet: „So sahe er dies am Ende für eine Art Gottesdienst an, und hielt es nun für keine Sünde mehr, wenn er sich auch halbe Tage mit dem Schiebkarren beschäftigte.“ Die Pietisten des Orts kommentierten Anton’s Treiben mit recht sauertöpfischen Mienen. In Anton erwachte bald ein schier unstillbarer Lesehunger. „Das Lesen war ihm nun einmal so zum Bedürfniß geworden, wie es den Morgenländern das Opium seyn mag, wodurch sie ihre Sinne in eine angenehme Betäubung bringen.“

Die „Anton Reiser“-Renaissance im Vormärz

Karl Philipp Moritz und insbesondere der „Anton Reiser“ erlebten nicht erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, sondern bereits im Vormärz eine Renaissance. 1843 hatte Friedrich Theodor Vischer in seinem „Entwurf einer neuen Ästhetik“ zwar proklamiert: „Die Phantasmen, die Mythen sind zu Ende“, die Welt sei „entgöttert, die Natur entgeistert, die Geschichte von Wundern entleert.“ Doch in der Literatur feierten die Untoten in jenen Jahren – zuweilen auch mit direkter Bezugnahme auf Karl Philipp Moritz – ihre Auferstehung. In dieser „literarischen Enklave“ lebten die Totgeglaubten munter weiter. Heinrich Heine treibt in einer Passage von „Die Harzreise“(1826) das Leugnen irrationaler Ängste im rationalistischen Diskurs satirisch auf die Spitze. Er lässt den vier Jahre zuvor verstorbenen Rationalisten Saul Ascher als Gespenst erscheinen. „Fürchten Sie sich nicht, und glauben Sie nicht, daß ich ein Gespenst sey. Es ist Täuschung Ihrer Phantasie, wenn Sie mich als Gespenst zu sehen glauben“, doziert der tote Professor und schreitet zu einer Analyse der Vernunft, zitiert Kants „Kritik der reinen Vernunft“ und schloss „mit dem logischen Beweise: daß es durchaus keine Gespenster giebt.“ Den Ich-Erzähler beruhigt das keineswegs: „Mir unterdessen lief der kalte Schweiß über den Rücken, meine Zähne klapperten wie Kastagnetten, aus Seelenangst nickte ich unbedingte Zustimmung bey jedem Satz, womit der spukende Doctor die Absurdität aller Gespensterfurcht bewies“. In einigen literarischen Texten jener Zeit wurde sogar „die pragmatisch-realistische Schilderung sozialer Verhältnisse mit archaischen Narrationen von rachedurstigen Untoten, schicksalhafter Vergeltung und Bestrafung aus dem Jenseits“ kombiniert, wie die Literaturwissenschaftlerin Agnes Hoffmann hervorhebt. „Gespenster, Revenants und Rachegeister werden als Ausgeburten ganz realweltlicher Missstände der Restaurationsepoche bestimmt, innerhalb derer sie für Gerechtigkeit oder zumindest für die Sichtbarmachung von Unrecht sorgen.“ Vieles spreche dafür, so Hoffmann, dass es in den Werken von August Lewald, Annette von Droste-Hülshoff und Luise Mühlbach „aufgrund von ungerechter Güterverteilung, Klassengegensätzen und sozialer Ungleichheit in der modernen Gesellschaft spukt.“

Die Moritz-Ausstellung im Goethemuseum

Als Heinrich Heine in seiner Schrift „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“ ein Loblied auf den Kreis der Aufklärer rund um Moses Mendelssohn anstimmt, setzt er hinzu: „Moritz ist mir der liebste. Er leistete viel in der Erfahrungsseelenkunde.“ Dessen Lebensgeschichte – Heine meint den „Anton Reiser“ – sei „eins der wichtigsten Denkmäler jener Zeit.“ Im Goethe-Museum findet sich natürlich kein Wort zu „Rio Reiser“, auch nicht zu Heine, geschweige denn zu Friedrich Engels. Warum lernen wir über diese Zusammenhänge nichts in der Schule? Möglicherweise hätte dann sogar ich in Geschi besser aufgepasst. Stattdessen wird Moritz in der Ausstellung schwerpunktmäßig als Goethes „jüngerer Bruder“ präsentiert. Die Steifheit jener Zeit kommt gut durch die ausgestellten Scherenschnitte, die Kupferstiche, die Porträts, die Elogen von Gymnasiasten auf ihren Lehrer Moritz zum Ausdruck. Das Lesepult im Entree spricht Bände. Zudem liegen Moritz’ Abhandlung über griechische Mythologie, dessen „Reisen eines Deutschen in England im Jahr 1782“ und weitere Reiseschilderungen in einer Vitrine aus. Die Exponate machen bewusst, wie revolutionär Moritz in jener verzopften Zeit war. Zwei Tuschzeichnungen von Johann Heinrich Tischbein zeigen, dass sich die Deutschen in Rom, wenn sie nicht gerade für ein Gemälde oder einen Stahlstich posierten, ganz anders gaben. Auch großformatige Ansichten von Rom – dort hatte Moritz Goethe kennengelernt – sind zu sehen. Wir erfahren zudem, dass Moritz ein unkonventioneller Lehrer war, „beliebt bei seinen Schülern, ein Sorgenkind aber seiner Vorgesetzten.“ Eine ganze Wand ist mit Seiten aus dem „Magazin für Erfahrungsseelenkunde“ bestückt. Ich will es bei diesen Impressionen belassen. Wie bereits erwähnt, halte ich TERZ-Leser*innen für autonom genug, sich selbst ein Bild zu machen. Kleiner Tipp: Die letzte Stunde ab 16 Uhr ist freier Eintritt. Wer zufällig in der Gegend ist und sich nur mal schnell einen Überblick verschaffen will, hat dazu die Gelegenheit.

Apropos Rio Reiser: Der Vers „Ich hab geträumt, der Krieg wär vorbei“, war keineswegs nur metaphorisch gemeint. Der von den USA vom Zaun gebrochene Vietnamkrieg tobte da bereits über ein Jahrzehnt. Die USA pumpten immer mehr Waffen und Rüstungsgüter in das südostasiatische Land. Immer mehr US-Soldaten kehrten in Zinksärgen heim. Und 1972, als der Song auf der LP „Keine Macht für Niemand“ erschien, ging der Krieg mit unverminderter Intensität weiter. Am 8. Mai 1972 war vom US-Präsidenten als bisher schwerste Eskalation des Kriegs die Verminung des Hafens von Hai Phòng, eine Seeblockade und, erneute Flächenbombardierungen Nordvietnams angekündigt worden. Bei der Operation Linebacker warf die US-Luftwaffe im Juni 112.000 Tonnen Bomben ab, erstmals auch sich selbst elektronisch steuernde präzisionsgelenkte Munition. „Ich hab geträumt, der Krieg wär vorbei“ hatte also wirklich einen sehr konkreten Hintergrund.

Thomas Giese