Verschleppt nach Riga

Mit der Ausstellung „‚ Der Tod ist ständig unter uns’ Die Deportationen nach Riga und der Holocaust im deutsch besetzten Lettland“ kommt von Februar bis April 2023 ein wichtiges Stück Wissens-, Erinnerungs- und Gedächtnisarbeit nach Düsseldorf.

Der Erinnerungsort Alter Schlachthof und die Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf haben die Ausstellung ganz bewusst an einen jener Ereignisorte geholt, der eng verknüpft ist mit ihrem Thema: der Geschichte der Verschleppung von Jüd*innen in das Ghetto und die Konzentrationslager von Riga im deutsch besetzten Lettland.

Denn die Wege der Deportationen dorthin hatten einen ihrer Ausgangspunkte 1941 – auch – in Düsseldorf. Hier gingen sie aus vom Derendorfer Güterbahnhof, nahmen einen ihrer Anfangsschritte in einer Viehhalle des damals städtischen Schlachthofs. Von dort, wo heute der Campus der Hochschule Düsseldorf (HSD) ist.

Das Gebäude ist erhalten. Heute findet sich darin die Bibliothek der Hochschule, daran angrenzend der Erinnerungsort Alter Schlachthof. Er beschäftigt sich seit 2016 in Bildungsangeboten und Forschung mit der Geschichte der Verbrechen, die zwischen Herbst 1941 und dem späten Sommer 1944 an diesem historischen Ort verübt wurden oder ihren Ausgang nahmen. Fast 6.000 als jüdisch verfolgte Menschen aus dem ganzen Regierungsbezirk Düsseldorf mussten sich vor den Transporten in dieser Halle einfinden, wurden jeweils am Folgetag vom nahe gelegenen Güterbahnhof in Ghettos und Lager im von Nazi-Deutschland besetzten Osteuropa deportiert: nach Łódź, Minsk, Riga, Izbica und Theresienstadt (heute: Terezín). Nur wenige überlebten die Shoah.

Vom 13. Februar bis zum 4. April ist die Ausstellung „Der Tod ist ständig unter uns“ nun eben dort zu sehen, auf dem Hochschulcampus, wo einst der städtische Schlachthof lag. Das lichte Foyer des Gebäudes des Fachbereichs Design – in Sichtweite der historischen Viehhalle – ist ein guter Ort für die Ausstellung, die leihweise in Düsseldorf ist. Entwickelt und realisiert wurde sie in Hamburg, von den Kurator*innen Natascha Höhn und Franziska Frank für die Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte. Denn auch Hamburg war einer jener vielen Orte, aus denen zwischen November 1941 und Winter 1942 nahezu 25.000 Menschen nach Riga verschleppt wurden – Hamburger Jüd*innen, Menschen aus Nürnberg, aus Hannover, aus Wien, Prag oder Brünn. Und: aus dem Regierungsbezirk Düsseldorf.

„… der gesamte Transport, versammelt“

Am 10. Dezember 1941 und über die Nacht auf den 11. Dezember hinweg schloss sich für 1.007 Menschen aus dem Regierungsbezirk Düsseldorf ein weiterer Schritt der Verfolgung an ihre bisherigen Erlebnisse der Erniedrigung und Gewalt an. Denn ihrer Verschleppung waren Ausgrenzung, Entrechtung und mitunter auch die Zwangsunterbringung in sogenannten Ghetto- oder „Juden-Häusern“ vorausgegangen. Auch in Düsseldorf und in der Umgebung. So waren es Jüd*innen aus der Stadt und aus der Niederrhein-Region, die im Dezember 1941 in die Viehhalle des Schlachthofs gezwungen wurden, unter aller Augen, mitten in der Stadt. Die Überlebende Liesel Ginsburg-Frenkel erinnerte sich 1946: „Der Weg zum Schlachthof war ein Leidensweg, ein Spießrutenlaufen. Die Bevölkerung gaffte uns an, als habe sie bisher noch keine Menschen gesehen. Auch dieser Weg hatte ein Ende, und wir kamen in den Schlachthof, der eben von den Tieren verlassen war – auch demgemäß aussah. […] So waren jetzt tausend Menschen, der gesamte Transport, versammelt.“

Dieser dritte der insgesamt sieben Verschleppungstransporte vom Derendorfer Güterbahnhof (heute Mahnmal an der Marc-Chagall-Straße/Toulouser Allee) erreichte Riga am 13.12.1941. Der Bericht, den der Düsseldorfer Schutzpolizist Paul Salitter, Leiter des Polizeibegleitkommandos des Transportes, unmittelbar nach der Deportation in nazistisch-bürokratischer Weise an das Reichssicherheitshauptamt erstattete, ist eines der seltenen Täterschaftszeugnisse für die grausamen Umstände der Verschleppung.

Nicht unsichtbar

Die Ausstellung „Der Tod ist ständig unter uns“ kann allerdings zu seiner klugen, wissenschaftlich-kuratorischen Arbeit und Aufbereitung von Quellen aus der Perspektive der Täter außerdem oft an Zeitzeugnisse von Überlebenden anknüpfen: an Erinnerungen und Spuren von Menschen, die – nicht nur, aber auch aus Düsseldorf – nach Riga verschleppt wurden. Hilde Sherman-Sanders etwa, 1923 geboren und aufgewachsenen in Wanlo, veröffentlichte 1984 ihre Erinnerungen an ihre „Mädchenjahre im Ghetto“. Auch sie berichtet über den Beginn ihrer Verschleppung, ausgehend von der Derendorfer Großviehmarkthalle: Die Treppe des Schlachthofeingangs sei sie hinuntergestoßen worden, oben habe der Gestapobeamte Georg Pütz gestanden. „Mit wutverzerrtem Gesicht brüllte er hinter mir her: ‚Auf was wartest du noch? Auf die Straßenbahn? Die fährt für Dich niemals mehr.’“

Solchen und anderen veröffentlichten und unveröffentlichten Zeugnissen verdankt die Ausstellung über die Shoah in Riga, dass wir heute mehr erfahren über die Verfolgungs- und Verbrechensgeschichte, als es die Täter*innen wohl jemals wollten. Versuchten sie doch überall, ihre Taten und Mordstätten zu verbergen, Zeug*innen und Zeugnisse zu vernichten, jede Spur ihrer Verbrechen zu löschen. Von den Landkarten und aus den Gedächtnissen.

Nun macht die Ausstellung auch in Düsseldorf sichtbar, was in Riga auf die Deportationen folgte – welche Verbrechen vor Ort von hier aus also ihren Anfang nahmen, direkt vor unserer heutigen Haustür begangen, zu verantworten von „ganz normalen Männern“ und Frauen, von Nachbar*innen und Zuschauer*innen, von Täter*innen und Mitläufern.

Klug, gut strukturiert und sehr detailreich berichtet die Ausstellung von Gewalt und Mord im Ghetto Riga, von Zwangsarbeit, Lagergemeinschaft und Widerstand. Von den Bedingungen des Überlebens – für Männer und Frauen, Jüngere und Ältere, für Kinder. Von den 1.007 Menschen, die am 11.12.1941 aus Düsseldorf nach Riga verschleppt wurden, überlebten nicht einmal Hundert Menschen, nur die wenigsten von ihnen kehrten in die Region zurück.

Die Ausstellung zeichnet aber auch die Spuren des Erinnerns nach und lässt die eindrücklichen Zeugnissen der wenigen Überlebenden zu Wort kommen. Auch von einer Geschichtspolitik und Erinnerungspraxis des Vergessens in der (frühen) Bundesrepublik lässt sie uns wissen. Sie schweigt nicht zu den ungesühnten Tatbeteiligungen und Verbrechen nationalsozialistischer Täter*innen, die sich im postnationalsozialistischen Deutschland ihrer Verantwortung für Verschleppung, Gewaltverbrechen und Mord nicht stellten – sich ihnen in den seltensten Fällen stellen mussten. Georg Salitter etwa wurde zwar nach 1945 auf Anordnung der britischen Militärregierung aus dem Polizeidienst entlassen. Als in den 1960er Jahren sein Bericht von der Deportation von Düsseldorf nach Riga auftauchte, bestritt er aber dessen Echtheit. Juristisch belangt wurde er nie.

Seltene Gelegenheit: Spurenwege

Am 13. Februar 2023 wurde die Ausstellung an der Hochschule Düsseldorf eröffnet – unter großer Anteilnahme von Besucher*innen aus der interessierten Öffentlichkeit, von Schüler*innen, von Politiker*innen und zusammen mit Vertreter*innen der Jüdischen Gemeinde und mit Familienangehörigen von Überlebenden. Den Stimmen von Überlebenden und Angehörigen wird auch ein Großteil des Begleitprogrammes gewidmet sein. Am 15.03. wird etwa Hans Jakob Ginsburg über seine Familiengeschichte berichten. Der Journalist ist auf sehr besondere Weise mit Riga verbunden. Denn seine Eltern Liesel Frenkel und Alexander Ginsburg lernten sich dort im Ghetto kennen. Sie kam aus Rheydt, er aus Riga. Liesel Frenkel war am 11. Dezember 1941 gemeinsam mit ihren Eltern und ihrem Bruder vom Düsseldorfer Schlachthof aus in das Ghetto Riga deportiert worden und überlebte als einzige ihrer Familie die Shoah. Nach dem Krieg ließ sich die Familie in Köln nieder, wo Alexander Ginsburg lange Jahre mit Fragen der Wiedergutmachung betraut war und später Generalsekretär des „Zentralrats der Juden“ wurde.

Dem Erinnerungsort Alter Schlachthof und der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf ist es zu verdanken, dass diese wichtigen Perspektiven – wenn auch für nur kurze Zeit – in der Stadt sichtbar werden. Diese Gelegenheit ist selten und nicht nur darum wertvoll. Denn die Geschichte der Shoah beginnt nicht irgendwo – sie ist Teil unserer lokalen Geschichte. Den Zugang zu ihr macht uns die Ausstellung leicht, so unmittelbar am historischen Ort. Es ist an uns, sie wahrzunehmen als wertvollen Impuls für ein Nachdenken und Handeln über und mit Verantwortung, für ein Gedenken und Erinnern.

Fanny Schneider


Besuch und Öffnungszeiten:

Die Ausstellung ist bis zum 3. April wochentags von 7 bis 20 Uhr geöffnet, samstags von 7 bis 16 Uhr. Vom 20.03.2023 an kann sie auch sonntags besucht werden (7 bis 17 Uhr), wochentags sogar bis 22 Uhr – in der Münsterstraße 156 im Foyer von Gebäude 6 der Hochschule Düsseldorf. Der Eintritt ist kostenlos.

Programmtermine im März:

»Wir haben es doch erlebt« Das Ghetto von Riga
Donnerstag, 02.03.2023, 18.30 Uhr, Hochschule Düsseldorf, Münsterstraße 156, Geb. 3, E001
Dokumentarfilm, Deutschland 2013, Film von Jürgen Hobrecht

Mariannes Heimkehr. Die Jüdin, der Beamte und das Dorf
Dienstag, 07.03.2023, 18.30 Uhr, Hochschule Düsseldorf, Münsterstraße 156, Geb. 4, E002
Dokumentarfilm, Deutschland WDR 2003, Gert Monheim/Steffen Röttger

Gespräch mit Hans Jakob Ginsburg
Mittwoch, 15.03.2023, 18.30 Uhr, Hochschule Düsseldorf, Münsterstraße 156, Geb. 3, E.001

„Im Dialog“ mit Bürgermeisterin Klaudia Zepuntke
Mittwoch, 22.03.2023, 18.30 Uhr, Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf, Mühlenstraße 29
Gespräch und Gedenkreise-Bericht

Öffentliche Führung durch die Ausstellung
Mittwoch, 01.03.2023, 17.00 Uhr (mit Andrea Dietchen)
Samstag, 11.03.2023, 14.00 Uhr (mit Hannelore Steinert)
Sonntag, 26.03.2023, 15.00 Uhr (mit Hannelore Steinert)
Mittwoch, 29.03.2023, 17.00 Uhr (mit Andrea Dietchen)

Treffpunkt jeweils an der Hochschule Düsseldorf, Münsterstraße 156, im Foyer von Gebäude 6

Programmflyer und Aktuelles zur Ausstellung unter: https://erinnerungsort-duesseldorf.de/neuigkeiten