TERZ 04.23 – MUSIC
In der Lübecker Innenstadt gelegen: Wo-Anders, ein heller und freundlicher Laden mit sympathischem Inhaber. Führt Neuware und sehr viel Second-Hand. Ich habe mich sofort durch die Singles gegraben und bin fündig geworden: Never Mind The Noise Split EP von Estampido (Teneriffa) und Nuclear Assao (Barcelona). Ein Cover-Kauf, ohne reinzuhören! (Das Cover ist eine Reminiszenz an die Sore Throat LP Never Mind The Napalm Here‘s Sore Throat.) 26 kurze Granaten von Nuclear Assao und 14 Trasher von Estampido. Auf beiden Seiten wird gegrölt, gekreischt und gegrunzt in einer atemberaubenden Geschwindigkeit. Gerade wenn Du meinst, eine gewisse Melodie oder Songstruktur erkennen zu können, fängt auch schon der nächste Song an. 40 Lieder in unglaublichen 12 Minuten, auf einer Single! Ein Muss für alle Fans von Napalm Death. Kommt mit schlecht kopiertem Schwarz-weiß-Textblatt und Interviews.
Kuscheliger geht es dann mit Billy Ocean und Love Really Hurts Without You weiter. Ein Song, der mich immer wieder dazu verführt hat, wenn er im Radio oder sonstwo lief, eine genervte Mrs. Cave mit einer Tanzeinlage zu beglücken. Ein wirklich grandioser Popsong ist jetzt endlich im handlichen Single-Format in Oberbilk zuhause: Baby, love really hurts without you, Love really hurts without you, and it‘s breaking my heart, but what can I do, baby …
Von der Wand des Plattenladens schaute mich dann ausgerechnet Winnetou aka Pierre Brice streng an, und somit ist jetzt eine Amiga-Single mit Winnetou-Melodien auch in unsere Sammlung eingezogen. Amiga ist ein einflussreiches DDR-Label, welches von 1955 bis 1994 aktiv war und auch viele Lizenz-Veröffentlichungen internationaler Interpret*innen herausgebracht hat. Die Single enthält die verträumte Winnetou-Melodie „Unter Geiern“, auf Seite B dann die „Old Shatterhand“- und die „Der Schut“-Melodie. Eingespielt vom Münchener Rundfunk-Orchester, geleitet von Martin Böttcher, der die Stücke, die allen bekannt sein dürften, auch komponiert und arrangiert hat. Die Single ist die perfekte Ergänzung zu unseren „Karl May“-Soundtracks.
Da wir gerade beim Thema Soundtracks sind: Wo-Anders ist da sehr gut sortiert, und Mrs. Cave ging umgehend auf Tauchstation, um die Plattenkisten am Fußboden zu durchstöbern, bekam vom Ladeninhaber schließlich ein Höckerchen untergeschoben, um die Knie zu entlasten. Ihre Ausbeute war durchaus beachtlich. Ryuichi Sakamoto mit Merry Christmas Mr. Lawrence, Ennio Morricones Symphony For Richard III, sowie Rodgers & Hammersteins Musical Oklahoma! Der Kriegsfilm „Furyo - Merry Christmas Mr. Lawrence“ wurde 1983 vom Skandalregisseur Nagisa Ōshima (Im Reich der Sinne) nach einer Buchvorlage verfilmt. In den Hauptrollen David Bowie, Ryuichi Sakamoto, Tom Conti und Takeshi Kitano. Sakamoto (u.a. Yellow Magic Orchestra) nahm das Angebot, die Rolle des Hauptmanns Yonoi zu übernehmen, nur unter der Bedingung an, auch die Filmmusik komponieren zu dürfen, bei der er Synthesizer und Sampler verwendete. Abgerundet wurde die Komposition durch Klavier und Streichereinsätze. Da der 71-jährige Ryuichi Sakamoto schwer an Krebs erkrankt ist und sein im Januar erschienenes Album 12 wahrscheinlich seine letzte Veröffentlichung sein wird, ist hier die Gelegenheit, dem großen japanischen Ambientpop-Stilisten mit einem imposanten Lebenswerk zu gedenken und uns für seinen Einsatz gegen die Atomkraft zu bedanken.
Ennio Morricone ist vielen ja durch seine Soundtracks für unzählige Western bekannt, aber die Symphony For Richard III zeigt uns dann wieder einmal mehr, dass Ennio nicht umsonst als einer der besten Soundtrack-Komponisten gilt. Die Symphonie wurde 1997 von ihm für den 1912 gedrehten Stummfilm komponiert. Die Filmaufnahmen galten lange als verschollen und wurden erst 1996 in einem Privatarchiv wiedergefunden. Der Soundtrack selber ist klassisch, dabei beunruhigend und dramatisch, entsprechend der Filmhandlung. 2012 wurden die Knochen Richards III bei Ausgrabungsarbeiten unter einem Parkplatz in der mittelenglischen Stadt Leicester gefunden. Für einen König, der seinen Platz in der englischen Geschichte hat, ein ungewöhnlicher Fundort. Er wurde anhand wissenschaftlicher Untersuchungen eindeutig identifiziert und mit militärischen Ehren 2015 in Leicester beerdigt. Unser Fundstück ist eine hochwertige, 2017 wieder aufgelegte Ausgabe von Music on Vinyl im Rahmen der Classic Soundtrack Series.
Zu Rodgers & Hammersteins Musical Oklahoma! kann ich nur sagen, ja es ist ein Musical! 1943 erstmalig aufgeführt, wurde das sehr erfolgreiche Bühnenstück 1955 verfilmt. Die Verfilmung erhielt zwei Oscars und war für 2 weitere nominiert. Unsere 1959er Vinyl-Version ist im Klapp / Tip-On[1] Cover veröffentlicht worden. Das Musical ist in einem Western-Setting angesiedelt, es geht (wie überraschend!) um Liebe und Konkurrenz.
Von Wovenhand ist dann noch der 2021er Repress des im Original 2012 erschienen Albums The Laughing Stalk erstanden worden. Wie immer ein solides und handwerklich hervorragend gemachtes Album. Ich bin froh, auch diese Lücke in unserer Sammlung geschlossen zu haben. Wer sich noch an die Kritik des 2022er Albums Silver Sash aus der Terz vom März letzten Jahres erinnern kann und Gefallen an dem Album hatte, sollte unbedingt zugreifen. The Laughing Stalk ist meiner Meinung nach noch treibender, packender, der Gesang noch hypnotischer und die Gitarren sind einfach nur eine Wand aus Sound. Am Freitag den 28.04.23 werdet ihr Mrs. Cave und den Oberbilker hoffentlich im Kölner Stadtgarten antreffen, denn David Eugene Edwards, Sänger und Mastermind von Wovenhand, kommt auf Europa-Tournee!
Nach einer Kaffeepause hat es uns noch in das Studio 1 verschlagen, und drei weitere Soundtracks landeten in der Plattentasche. Morton Goulds Windjammer, Christopher Gunnings When The Whales Came sowie Cristobal Tapia De Veer mit Utopia. Das Studio 1 ist ein langer Schlauch, für den wir Zeit und Geduld mitbringen mussten. Das Ambiente ist Anfang der Achtziger anzusiedeln, überall stehen auf vollkommen überladenen, windschiefen Tapeziertischen eng gepackte Kisten mit Vinyl rum! Eine Herausforderung, sich dort auf die Suche zu machen. Widmen wir uns aber den drei Soundtracks. Windjammer (The Voyage of the Christian Radich) wurde vor einiger Zeit mal wieder im Metropol im Cinemascope-Format gezeigt. Der Dokumentarfilm aus dem Jahr 1958 begleitet die 17.000 Seemeilen lange Fahrt des norwegischen Segelschulschiffes S/S Christian Radich. Besonders bewegend ist die Begegnung mit dem Flying P Liner Pamir, die kurze Zeit später im Atlantik in einem Tropensturm untergeht. Nur 6 Matrosen der größtenteils blutjungen Besatzung überlebten dieses Unglück. Einen Tag vorher waren wir noch in Travemünde und haben das Schwesterschiff Passat besucht. Wahrscheinlich hat der legendäre Viermaster der Reederei Laeisz mit seinen insgesamt 39 Umsegelungen von Kap Horn Mrs. Cave so beindruckt, dass der Soundtrack blind und ohne Anhören eingepackt wurde, die Platte springt und knarzt ordentlich! Der Soundtrack selber bietet viele bekannte Lieder, die immer noch zum Standardrepertoire von Shanty-Chören gehören.
When The Whales Came ist ein Film von 1989, der auf den Scilly-Inseln im Jahr 1914 spielt. Auf der Bevölkerung lastet ein Fluch, weil diese vor Jahren gestrandete Wale abgeschlachtet hat. Als wieder ein Wal strandet, können die beiden Freunde Daniel und Woodcock die Bevölkerung diesmal davon abhalten und den Fluch somit brechen. Christopher Gunnings Soundtrack ist mystisch, sphärisch und folkloristisch zugleich. Violine, Mundharmonika, Flöten, Klarinetten sowie der Gesang von Catherine Bott machen den OST zu einem Hörerlebnis!
Utopia ist eine englische Fernsehserie aus dem Jahr 2013. Es geht um Verschwörungen und das Utopia-Experiment, das angeblich katastrophale Ereignisse voraussagen kann. Cristobal Tapia De Veer liefert hierzu den passenden Soundtrack ab und wurde 2013 von der Royal Television Society dafür ausgezeichnet. Strange, spooky und elektronisch, hätte Utopia auch hervorragend auf Warp Records veröffentlicht werden können. Autechre und Plaid kann ich hier als Referenz nennen.
Auf dem Rückweg haben wir noch in Lüneburg Halt gemacht und durch Zufall Profi Musik Thomas Melchior entdeckt. Ein Fachgeschäft für High-End-Geräte mit einer nerdigen Entourage, die sich dort zum Fachsimpeln versammelt hatte, aber einer kleinen und feinen Vinyl-Abteilung, die nach unserem Besuch noch etwas kleiner wurde. Hier unsere Einkaufsliste: Michael Rother hat letztes Jahr zusammen mit der italienischen Musikerin Vittoria Maccabruni das Album As Long As The Light veröffentlicht. Zu Rother und seinem Werk muss ich nicht viel sagen. Er und Vittoria Maccabruni kennen sich seit 2005, arbeiten seit 2020 zusammen, er lebt momentan bei ihr in Pisa. Dort haben die beiden auch As Long As The Light eingespielt. Wer Michael Rother in all seinen Schaffensphasen mag, sollte sich auf jeden Fall mit seinem aktuellen Werk und seiner momentanen Kollaboration beschäftigen. Die Platte klingt nach Rother, ist aber auch wieder etwas komplett NEUes!
Das unbetitelte Debütalbum von Françoise Hardy aus dem Jahr 1962 ein Klassiker der französischen Popmusik. Da ich schon verschiedene Singles und eine Kompilation in den Regalen stehen habe, war die LP schnell eingepackt. Das ansprechende Gatefold-Cover birgt eine Platte mit wunderschön arrangierten Chansons, die Lust auf den Sommer machen und den passenden Tagesabschluss für den Abend am Rheinstrand bilden!
Jonny Greenwood (Radiohead) ist im Hause Oberbilk auch kein Unbekannter. The Power Of The Dog wurde natürlich von Mrs. Cave entdeckt. Der Soundtrack für das von Jane Campion verfilmte Drama ist aus dem Jahr 2021. Es geht um zwei Brüder, die 1925 in Montana gemeinsam eine Farm führen. Der Neid des einen auf das Eheglück des anderen, unterdrückte Homosexualität und das gängige Männerbild dieser Zeit prägen die Handlung. Der Film gewann 2022 den Oskar für die beste Regie und erhielt 11 weitere Nominierungen. Die mit klassischen Instrumenten (Celli, Violinen, Hörner) eingespielten, oftmals beunruhigenden Kompositionen vermitteln die Dramatik der Handlung. Die Weiten Montanas, die Rauheit der Landschaft und die Herausforderungen der Natur werden förmlich spürbar, musikalische Momente, die an Das Piano, einem weiteren prämierten Film von Jane Campion erinnern, blitzen auf, ein verstimmtes Saloonklavier erklingt, eingebettet in viel Moll. Leider hatten wir noch keine Gelegenheit, den Film zu sehen.
Mehr Platz war nicht in unserer Plattentasche, Grüße
Mrs. Cave und der Oberbilker.