Tolstoi aus der Kiefernstraße

Der „Alte von Jasnaja Poljana“ war ein Fundamentalkritiker des staatlichen Kriegskomplexes und inspirierte christliche Anarchist*innen.

Der bedeutendste Botschafter wider den Heilsglauben des Militärischen und die zerstörerische Zivilisation des Krieges war zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Russe Leo Nikolajewitsch Tolstoi (1828-1910). Seine Schriften zu Pazifismus, Antikapitalismus und Staatskritik wurden damals auf der ganzen Welt gelesen. Für die Besitzlosen in Russland druckten die Tolstoijaner*innen in Millionenauflagen kostenlose Hefte. Der Autor verzichtete auf Urheberrecht und Honorare. Deshalb kamen seine sozialethischen Werke oft gleichzeitig in mehreren Übersetzungen für die deutschsprachige Leserschaft auf den Büchermarkt.

Heute ist dieser Teil seines Schaffens nur noch wenigen bekannt und in den meisten Fällen auch nicht mehr greifbar. Für Abhilfe sorgt seit diesem Frühjahr das pazifistische Editionsprojekt „Tolstoi-Friedensbibliothek“ (www.tolstoi-friedensbibliothek.de). Es erscheinen fortlaufend gedruckte Neuausgaben und Sammelbände. Gleichzeitig gibt es aber auch kostenfreie Digitalfassungen, deren Verlagsort den terz-Leser*innen vertraut ist: die Düsseldorfer Kiefernstraße.

Der weltberühmte Dichter von „Krieg und Frieden“ kannte das militärische Mordhandwerk nur zu gut aus eigener Anschauung. Im Frühjahr 1851 hatte er seinen ältesten Bruder Nikolaj auf der Rückreise zu dessen Regiment in den Kaukasus begleitet, später dort und dann auch im Krimkrieg (1853-1856) als Soldat gekämpft, zuletzt wegen sogenannter Tapferkeit eine Beförderung zum Leutnant erhalten und erst im März 1856 sein im November des gleichen Jahres angenommenes Abschiedsgesuch vorbereitet. Die frühen literarischen Arbeiten lassen z. T. schon eine nonkonforme – jedenfalls nicht staatstragende – Betrachtungsweise der Menschenschlächterei auf den „Feldern der Ehre“ erkennen. Beim Zeitschriftenabdruck von „Anna Karenina“ kam es bereits zu Problemen, weil Tolstoi dem Kriegsprojekt gegen das Osmanische Reich (1877-1878) seinen Beifall versagte.

Als Zeugnis der Lösung einer mehrjährigen existentiellen Krise muss die Schrift „Meine Beichte“ (1879-1882) gelesen werden, die dem Autor erstmalig das Verbot eines ganzen Werkes durch die Zensurbehörde beschert. Darin schreibt er im Rückblick kurz und bündig: „Ich bin im Kriege gewesen und habe gemordet.“ Die „theologische“ Rechtfertigung des Krieges und anderer Tötungsakte des Herrschaftsapparates (z. B. Hinrichtungen) durch die orthodoxen Lehrautoritäten ist in jenen Jahren schon der maßgebliche Grund für Tolstois kompromisslose Absage an jenes Kirchentum, das eine Symbiose mit dem Staat und dem politischen System der Besitzenden eingegangen ist.

Die Popen predigten den „Patriotismus als Christenpflicht“, stützten also die zentrale Herrschaftsstrategie. Tolstoi betätigte sich derweil in seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten gezielt als „Wehrkraft-Zersetzer“. Die unmissverständliche Botschaft in einer kleinen Flugschrift aus dem Jahr 1901 wider die offizielle Dienstanweisung der Armee richtet sich an die schon „unter den Waffen Stehenden“: „Soldat, du hast schießen, stechen, marschieren gelernt, man hat dich Lesen und Schreiben gelehrt, nach dem Exerzierplatz und zur Truppenschau geführt, vielleicht auch hast du einen Krieg mitgemacht, mit Türken und Chinesen gekämpft und alles ausgeführt, was dir befohlen wurde; es ist dir wohl nie in den Kopf gekommen, dich zu fragen, ob es gut oder böse ist, was du tust (…) Wenn du in Wahrheit Gottes Willen erfüllen willst, kannst du nur eines tun, den schmachvollen und gottlosen Beruf eines Soldaten abwerfen und bereit sein, alle Leiden, welche dir dafür auferlegt werden, geduldig zu ertragen.“

In einem zweiten „Denkzettel für Offiziere“ führt Tolstoi gegenüber den Vorgesetzten aus: „Ihr könnt immer aus eurer Stellung austreten. Wenn ihr aber nicht aus ihr austretet, so tut ihr dies nur deshalb, weil ihr vorzieht, in Widerspruch mit eurem Gewissen zu leben und zu wirken, als auf einige weltliche Vorteile zu verzichten, die euch euer ehrloser Dienst gewährt. Vergesst nur, dass ihr Offiziere seid, und denkt daran, dass ihr Menschen seid, und ein Ausweg aus eurer Lage wird sich sofort vor euch auftun. Dieser Ausweg ist der beste und ehrenvollste: versammelt die Abteilung, die ihr kommandiert, tretet vor sie hin und bittet die Soldaten um Verzeihung für alles das Böse, das ihr ihnen durch Täuschung zugefügt habt, und hört auf, Soldat zu sein.“

Allerdings lässt sich in einer Gesamtschau aller Quellen aufzeigen, dass der „Alte von Jasna Poljana“ nur solche angehenden Verweigerer ermutigt hat, die aus einer inneren Gewissheit heraus – ohne Blick auf Außenwirkung, Beifall oder fremde Erwartungen – bereit waren, Schritte zu gehen, die eine bittere Verfolgung bis hin zum Letzten nach sich ziehen können.

Nach Studien zu den Grundlagen eines an Jesus von Nazareth ausgerichteten Christentums und dem Ringen um eine soziale Antwort mit Blick auf das seit Anfang der 1880er Jahre erkundete Leben der Armen im Land wird Leo Tolstoi das Buch „Das Reich Gottes ist in Euch“ (1894) veröffentlichen. Dies ist sein grundlegendes Werk über die Unvereinbarkeit von Christentum und Soldatenhandwerk (bzw. staatlich-militärischer Gewalt). Raphael Löwenfeld fügt als Übersetzer dem Titel noch den Zusatz „Christi Lehre und die Allgemeine Wehrpflicht“ hinzu, den der russische Verfasser selbst zuerst der Deutlichkeit wegen erwogen hatte. Mahatma Gandhi zählte dieses Werk zu den Büchern, die auf sein Leben den größten Einfluss ausgeübt haben.

Tolstoi war freudig erregt, wenn er seinen Weg des Nichtwiderstrebens (nonviolence) und der kompromisslosen Kriegsverweigerung (Widerstand) in früheren Epochen wiederentdeckte so etwa bei dem Tschechen Peter Chelcickij (ca. 1390-1460), führenden staatskritischen Denker*innen der Gewaltfreiheit aus Nordamerika oder Vertreter*innen einer glaubwürdigen – d. h. die Einheit der Menschheit enthüllenden und gewaltfreien – Religion in allen Kulturkreisen.

Er erhielt Anregung und Zuspruch von „heterodoxen Gemeinschaften“ in Russland, die mensch in großkirchlichen Kreisen verächtlich als Sekten abtat und wegen fehlenden Staatsgehorsams unbarmherzig verfolgte. Dazu zählten u. a. die Molokan*innen („Milchtrinker“), Duchoborz*innen („Geisteskämpfer“), die Stundist*innen in der Ukraine oder Bauerndenker*innen wie der Steinmetz Wassilij Sutajew (1819-1892). Am Schicksal der brutal drangsalierten Duchoborz*innen, die ihm als Lehrmeister*innen eines aktiven Widerstehens ohne Gewalt begegneten, nahm Tolstoi großen Anteil. Seine Versuche einer wirksamen Hilfe erschöpften sich keineswegs in der Bereitstellung der Erlöse aus der Veröffentlichung des Romans „Auferstehung“ (1899) für die Ausreise dieser „Geisteskämpfer“ nach Kanada.

Kriegsdienstgegner*innen wie der ehemalige Militärarzt Albert Skarvan (1869-1926) aus Ungarn wurden bedeutsame Vermittler*innen von Tolstois Schrifttum. Für verfolgte Verweigerer wie Peter Olchowik und Kyrill Sereda verfasste Leo N. Tolstoi eigenhändige Protestschreiben. Ihm über Briefwechsel zur Kenntnis gekommene Vorbilder aus dem Ausland machte er über Veröffentlichungen in aller Welt bekannt.

In seinem Geleitwort zur Biographie des nach Gefängnisqualen umgekommenen Waffenverweigerers Jewdokim Nikitschitch Droschin (1866-1894) schreibt Tolstoi: „Wir sehen, dass Obrigkeiten, die sich für christlich halten, bei jeder Gelegenheit gegen Menschen, die sich weigern zu morden, in der offenkundigsten und feierlichsten Weise gezwungen sind, jenes Christentum und jenes sittliche Gebot zu verleugnen, auf welches sich ihre Gewalt allein stützt (…) In früheren Zeiten bildeten das von den Herrschern gemietete Heer ausgesuchte, verwahrloste, unchristliche und unwissende Leute oder Freiwillige und Söldlinge. Früher hatte Niemand oder nur selten Jemand das Evangelium gelesen und die Leute kannten nicht dessen Geist, sondern glaubten alles, was ihnen die Priester sagten; aber auch schon früher – wenn auch selten – hielten manchmal strenggläubige Menschen, die man Sektierer nannte, den Militärdienst für eine Sünde und weigerten sich, ihn zu leisten. Jetzt dagegen gibt es keinen Menschen, der nicht verpflichtet wäre, bewusst mit seinem Geld, und im größten Teile Europas unmittelbar an den Vorbereitungen zum Mord oder am Mord selber Teil zu nehmen; jetzt kennen fast alle Menschen das Evangelium und den Geist der Lehre Christi, alle wissen, dass viele Priester bestochene Betrüger sind und Niemand mehr … glaubt ihnen; und jetzt ist es bereits so weit gekommen, dass nicht Sektierer allein, sondern Leute, die keine besonderen Dogmen bekennen, gebildete, freidenkende Menschen, sich weigern zu dienen und nicht nur in Bezug auf sich selbst, sondern offen erklären, dass die Menschentötung mit keinem Bekenntnis des Christentums zu vereinigen ist.“

Mit ihrer Teilnahme an Repressionsapparaten wie Militär und Polizei stützen die Unterdrückten die Macht der Besitzenden, wobei sie sogar einwilligen, Ihresgleichen zu quälen oder zu töten. Erst wenn die Menschen hier an den Angelpunkten der Macht konsequent Gehorsam und Mitwirkung verweigern, ist Tolstoi zufolge eine Veränderung der traurigen Weltverhältnisse zu erhoffen. Die Herrschenden, machtgläubige Revolutionskader eingeschlossen, fürchten indessen nichts mehr, als dass entsprechende Konzepte eines gewaltfreien Widerstehens ins allgemeine – öffentliche – Bewusstsein gelangen.

Die bürgerliche Friedensbewegung ab dem späten 19. Jahrhundert wollte Hand in Hand mit den Mächtigen die Menschheit von der Geißel des Krieges befreien, womit sie bekanntlich gescheitert ist. Tolstoi setzte ausschließlich auf einen Widerstand von unten. Nicht von Friedenskongressen, sondern von einer breiten Bewegung der Nicht-Kooperation wider die militärischen Totmachapparate erhoffte der russische Dichter eine Überwindung jenes zivilisatorischen Abgrundes, der sich in seinem letzten Lebensjahrzehnt abzeichnete. Er sprach davon, es käme vielleicht in der Zukunft zur Entwicklung von Massenvernichtungswaffen, die die Mehrheit der menschlichen Spezies auslöschen könnten. Aber auch dann würden die Reichen, in deren Dienst die gesamte sogenannte „Zivilisation“ regelbasiert geordnet wird, sich von ihrem Wahn nicht abhalten lassen: „Ich bin wie jener Mann auf dem Tender eines in den Abgrund rasenden Zuges, der entsetzt erkennt, er vermag den Zug nicht zum Stehen zu bringen. Die Fahrgäste hingegen entsetzten sich erst, als die Katastrophe geschehen war.“ (27.12.1905)

Tolstois Schriften haben den Ersten Weltkrieg nicht verhindert, jedoch zigtausende Kriegsdienstverweigerer auf den Weg des „frommen Ungehorsams“ geführt und in gnädigen Zeiten das Antlitz der Erde durchaus mit verändert. Sie waren eine Inspiration für Gandhi in Indien, der 1910 auch im Briefkontakt mit dem Russen stand – ebenso für religiöse Sozialist*innen bzw. Anarchist*innen in Europa oder Nordamerika, die dem irrationalen Heilsversprechen der Gewaltgottheit widersagt haben.

Zu den Unterzeichnenden des Manifests „Gegen die Wehrpflicht und die militärische Ausbildung der Jugend“ von 1930 gehörten die Tolstoi-Vertrauten Pavel Birjukov und Valentin Bulgakov. Nahezu unmöglich erscheint es, dass ein einzelner Forscher so etwas wie eine globale Wirkungsgeschichte der Friedenswerke Tolstois schreiben könnte.

Die Botschaft des einst weltweit verehrten Russen Leo Tolstoi, ohne die heute eine Zukunft der menschlichen Familie auf der Erde – ohne grenzenlose Barbarei – schier unvorstellbar erscheint, ist nicht verstummt. Bisweilen wagen sich auch in unserer Gegenwart Vorboten eines Frühlings ohne Blutvergießen ans Tageslicht. Im Jahr 2022 – während des russischen Angriffskrieges in der Ukraine – haben Kriegsdienstverweigerer und Pazifisten aus der Ukraine, Russland, Belarus und Finnland einen Film gemacht, der inzwischen unter dem Titel „Make Art, Not War“ (2023) im Internet abgerufen werden kann. Eingerahmt von Dichtungen aus der Ukraine und Weißrussland steht das unvollendete Drama „Das Licht leuchtet in der Finsternis“ von Leo N. Tolstoi im Mittelpunkt dieses künstlerischen Votums: Verweigert das Töten!

Peter Bürger

Projektseite: https://tolstoi-friedensbibliothek.de

Die dort eingestellten Publikationen der in digitaler (kostenfreier) und gedruckter Form edierten Bibliotheksreihen werden ergänzt durch einen Offenen Lesesaal.