blaues
rauschen

Blaues Rauschen Festival: Statt einer ausufernden Beschreibung legen wir euch folgenden Text von der Website oder dem Programmheft ans Herz: „Eine Geschichte über Analog und Digital.“ , die doch sehr gut beschreibt, worum es bei diesem Festival geht. Das Programmheft alleine ist es schon wert, das Festival zu besuchen. Liebevoll und detailliert werden alle Künstler*innen, Locations und vieles mehr vorgestellt!

https://blauesrauschen.de

Mrs. Cave und der Ankündigung im WDR 5 verdanken wir den Besuch des Blaues Rauschen Festivals. Der Radiotrailer hatte so begeistert, dass mir keine andere Wahl blieb, als Tickets für Sound Ecologies Part 2 in Essen zu besorgen. So verschlug es uns dann am Freitag den 09.06.23 in das Rabbit Hole Theater und die Neue Musik Zentrale. Beides Off-Kultur-Locations, die mit Wehmut an die „Brause“ oder das „damenundherren“ zurückdenken lassen. Den Anfang machte die Multiinstrumentalistin Louretta aus Düsseldorf, diesmal unterstützt von Nicolai im Rabbit Hole Theater. Sehr konzentriert bot sie uns ein Set, in dem sie alle Register ihres Könnens zog. Alle möglichen Instrumente und Klangwerkzeuge wurden von ihr benutzt, geloopt und gesampelt. Darüber legt sich ihr sphärischer, fast feenhafter Gesang, die halbe Stunde ihres Sets verging wie im Flug. Louretta selber versteht sich als Solokünstlerin, macht aber auch gern gemeinsam mit anderen Musik und kollaboriert deshalb viel mit Kolleg*innen. Unser Anspieltipp: Lourettas Version von „Smells like Teen Spirit“.

Direkt neben dem Rabbit Hole Theater liegt die Neue Musik Zentrale, dorthin ging es für das zweite Set von Tomoko Sauvage (geboren in Yokohama, Japan, lebt und arbeitet in Paris, Frankreich). Ihr Programm Waterbowls war dann auch das Abgefahrenste, was wir seit Langem gesehen und gehört haben. Die Wäscheständer-Performance von Saal 5 vor Jahren in der Brause fällt uns dazu als Vergleich ein. Diverse Porzellan- und Wasserschüsseln verschiedener Größe – mit Wasser gefüllt und mit Hydrophonen (Unterwassermikrofonen) bestückt – verwendete sie, um uns an dem Freitagabend in komplett neue meditative Soundstrukturen zu entführen.

Zitat aus dem Programmheft: „Zufällige Perkussion mit Wassertropfen, hydrophonische Rückkopplungen, die durch von Hand gewellte Wasserwellen gesteuert werden, und poröse Terrakotta, die singende Blasen in der Flüssigkeit erzeugt, sind einige ihrer Techniken, die skulpturale und flüssige Klangfarben erzeugen.“

Nach der Performance stand Tomoko Sauvage dem zuvor in ehrfürchtiger Stille verharrendem Publikum für Fragen zur Verfügung. Eines fand ich sehr interessant, alle Schalen und Wasserstände sind genau bemessen, durch jahrelange Erfahrung. So wird jedes ihrer Sets durch ein fragiles Gleichgewicht zwischen Zufall und Kontrolle einzigartig. Auf meine Frage, ob sie denn unsere Nachbarn Miki Yui und Stefan Schneider kennt, erfolgte natürlich ein begeistertes: „ JA!“ Sie ist wohl auch schon angefragt, im nächsten Jahr in Neuss, Raketenstation Hombroich beim Raketenfestival aufzutreten.

Nach knapp einer halben Stunde ging es dann wieder zurück in den Kaninchenbau. LOUFR aka Piotr Bednarczyk aus Polen zerlegte in seinem Set jegliche Klangstruktur und Harmonie in einer absolut brachialen Weise und ohrenbetäubenden Lautstärke (zuvor wurden Ohrstöpsel an das Publikum verteilt, diejenigen, die abgelehnt hatten, hielten sich später die Ohren zu). Immer wenn wir dachten, jetzt ist eine gewisse Melodie oder Rhythmik erkennbar, wurden einfach ein paar Hebel umgelegt und die „Disharmonie“ in komplett neue Bahnen gelenkt. Das ist jetzt auch wieder aus dem Festivalprogramm geklaut: „So changiert Bednarczyks Sound zwischen Hoffnung und Ambiguität mal Richtung Zukunft, mal Richtung Dystopie: Eine Bewegung zwischen abstrakter Komposition, digital mutierten persönlichen Gedanken und experimenteller Clubmusik.“ Sichtlich erschöpft beendete er auch nach ca. 30 Minuten sein Set und ließ einen Großteil des anwesenden Publikums mit fiependen Ohren verstört zurück. Dieser Abend des Blauen Rauschens in Essen hatte uns so begeistert, dass sofort Karten für Sound Ecologies Part 3 gebucht wurden.

Diesmal ging es am Samstag den 17.06.23 in die Aula der Folkwang-Musikschule im Essener Westviertel, einem interessanten Nebeneinander von alter Industriearchitektur und modernen Glasbauten. Mrs. Cave und ich müssen wirklich anmerken, dass sich Essen an beiden Abenden für uns komplett neu eröffnet hat und bei aller Liebe zu Düsseldorf doch auch als Wohnort in Betracht gezogen werden könnte.

Eröffnet wurde der Abend mit der Open Sound Hacklab Performance. Ein Zusammenspiel von KI (Künstlicher Intelligenz), visuellen Tanzperformances, Computernutzung, Bildschirmen und Live-Musik. Teils harte Kost, immer anspruchsvoll und nicht loslassend, wurde uns der Weg in die nächste Dekade und wie sich Kunst, Tanz, Theater und Performance weiterentwickeln können, gezeigt.

Der New Yorker Künstler Jonas Bers erzeugte mit elektronischen Geräten verschiedener Epochen eine Kaskade elektronischer Störgeräusche. Den Sound entlockte er z. B. selbst Entwickeltem, wissenschaftlichen Apparaturen, Schnittmaschinen aus der VHS-Ära und Geräten aus militärischer Verwendung oder der Überwachung. Ton und Video wurden in Echtzeit erschaffen. Das Oszilloskop, mit dem er seine Visuals erzeugte, hatte er sich extra in Brüssel ausleihen müssen, weil er sein Gerät nicht aus New York mit nach Essen bringen konnte. Eine halbe Stunde, anstrengend für Ohren und Augen, im positiven Sinne, die mich dazu verleitet hat, am nächsten Tag seine Webseite zu besuchen und mir weitere Video-Präsentationen von ihm anzuschauen. Besucht die Seite!

Die Improvisatorin Okkyung Lee nutzt und verschmilzt verschiedenste Musikstile und Spieltechniken, um ihrem Cello mit Fingern und Bogen ungewöhnlichste Sounds zu entlocken. Ihr Set folgte einer Dramaturgie, die innere Bilder fernöstlicher Horrorfilme wie „The Ring“ oder „The Grudge“ erzeugte. Bespielte sie anfangs noch die Seitenwände ihres Cellos, war es schließlich kaum möglich, den Händen zu folgen, die über Hals, Körper und Saiten flogen. Die komplette Performance baute einen Spannungsbogen wie in einem Horrorfilm auf. Final denkst Du, es ist vorbei, doch dann taucht Michael Myers auf, packt dich und zieht dich unter die dunklen Sitzreihen der Folkwang-Aula.

Der von vielen Gästen mit Spannung erwartete Auftritt des grundsympathischen Nine Inch Nails Mitglieds Alessandro Cortini beendete diesen spannenden Abend, der bei uns ein sattes Klingeln im Ohr hinterließ. Sein aus geheimnisvollen elektronischen Apparaturen eigens entwickelter Strega-Syntheziser erzeugte epische Soundflächen zu Visuals, die uns auf eine Reise in unbekannte Welten entführten. Mrs. Cave und ich fühlten uns wie Piloten*innen in einem Raumschiff, die unterwegs waren, um die aussterbende Menschheit in eine bessere Zukunft zu geleiten. Nach seinem Gig bedankte sich Alessandro Cortini beim anwesenden Publikum für den Besuch des Festivals und ließ uns an seinen persönlichen Eindrücken, Erfahrungen, Depressionen und seiner Vaterschaft während der Corona-Pandemie teilhaben. Teilweise hatte er die Lust an der Musik verloren, aber das aktuelle Album Scuro Chiaro hat ihm geholfen, seine „Lebensfreude“ wieder zu finden. Wir sind gespannt, welche musikalischen Wege er in den nächsten Jahren beschreiten und welche Kollaborationen er noch eingehen wird, nachdem er schon mit Merzbow, Lawrence English und Daniel Avery aktiv war.

Unser Fazit: Ein sympathisches, unszeniges, trotz des experimentellen Charakters sehr nahbares Festival, mit vielen musikalischen und architektonischen Neuentdeckungen an interessanten Spielorten im ganzen Ruhrgebiet. Auch Gelsenkirchen, Dortmund, Bochum und Herne boten dieses Jahr Räume für Experimentelles. Zwar haben oft die Ohren geklingelt und wir waren froh, dass wir Gehörschutz dabei hatten. Kunst und Kultur dürfen aber auch mal wehtun und andere, abseitige, Wege beschreiben. Denn nur so bleiben Gehirn, Geist und Sinne wach!

Wir freuen uns schon auf eine Wiederholung im nächsten Jahr und werden dann hoffentlich nicht nur Essen besuchen!
Wir hoffen, ihr verzeiht uns unseren Ausflug in die digitale audio/visuelle Welt der Musik, nach der Sommerpause gibt es wieder analoge Tonträger.

Einen schönen Sommer wünschen euch
Mrs. Cave und der Oberbilker