Beschissen

hörte das Jahr 2023 auf. Am 30.12.23 ist Thorsten Burk­hardt aka Torsun an den Folgen seiner Krebserkrankung verstorben. Mit seiner Band Egotronic hat er maßgeblich den politischen Electropunk in Deutschland mitgeprägt. Dass er unheilbar an Krebs erkrankt war, machte er im Mai letzten Jahres publik. Das Interview, welches er damals der taz gab, war sehr traurig und hemmungslos ehrlich. Die Nachricht seines Todes knallte trotzdem am Silvestermorgen unverhofft über mich herein und ließ mich dann auch den ganzen Tag schwermütig auf den Jahreswechsel warten. In diesem Sinne, Torsun, mach es gut!
Genau einen Monat vorher, am 30.11.23, hat auch Shane MacGowan, Sänger der Pogues, das Zeitliche gesegnet. Sein Tod kam allerdings nicht so überraschend, war es doch aufgrund seines exzessiven Lebensstils nur eine Frage der Zeit, bis er uns verlässt. Anlässlich seines Todes wiederholt arte das filmische Porträt der irischen Musiklegende wieder. Mein Leben mit den Pogues – Die wilde Karriere des Shane MacGowan bietet uns das schönste Lächeln Irlands und zeigt, wie Mann mit Alkohol immer glücklich sein kann. Auch dir Shane alles Gute!

Beiden Musikern wurde Silvester im Oberbilker Haushalt mit Freunden und Freundinnen gedacht und gemeinsam das eine oder andere Glas auf die zwei geleert. Um das musikalische Programm des Silvesterabends so vielfältig wie möglich zu gestalten, wurden die anwesenden Gäste gebeten, einen Song vorzustellen und so ergab sich eine etwas ungewöhnliche Playlist, die wir euch nicht vorenthalten möchten. Den Anfang machten außer Konkurrenz Egotronic mit Raven gegen Deutschland. Ein Klassiker, der bei keinem antifaschistischen Abi-Abschlussball fehlen darf.

Weiter ging es mit den Sleaford Mods und West End Girls. „Das Beste aus zwei Welten!“. Die Erlöse der Cover-Version, dessen Original von den Pet Shop Boys stammt, gehen an die Obdachloseninitiative Shelter. Die 12“ ist von den Pet Shop Boys geadelt worden, haben die doch höchstpersönlich einen Remix beigesteuert. Die anderen Versionen lohnen sich aber auch, und die 12“ ist somit für Mods-Liebhaber*innen essentiell.

Voodoo Jürgens aka David Öllerer aus Österreich, war dann ein harter Kontrast zu den beiden vorherigen Electro-Stücken. Der melancholische Sound von Federkleid, vorgetragen im granteligsten Wiener Schmäh, lies die illustre Silvesterrunde erst einmal durchatmen und sorgte für beschauliche Momente in Oberbilk.

Diese Stimmung wurde von den Pogues mit Fairytale Of New York aufrechterhalten, ein besinnlicher Moment, um Shane MacGowan zu gedenken. Wie schon erwähnt, war das Enfant Terrible aus Irland für seine Exzesse berühmt und berüchtigt, was aber seiner musikalischen Karriere selbst keinen Abbruch tat. Die Liste seiner Kooperationen mit Musiker*innen ist wirklich beachtlich, selbst Schauspieler Johnny Depp zählte zu seinem Freundeskreis (wen wundert’s …). Einem Interview zufolge fing Shane mit dem Trinken schon im Alter von 4 Jahren an, seinen ersten Whisky hatte er dann mit 10 Jahren. Er selber bezeichnete sich als Gewohnheitstrinker, und da ist 67 doch ein beachtliches Alter! Aktueller wurde es dann mit Doja Cat aka Amala Zandile Dlamini und Paint The Town Red. Die Rapperin, Produzentin, Songwriterin aus LA hat auf ihrem aktuellen Album Scarlet alle Texte selber geschrieben und war auch die Produktionsleiterin. Sie selbst war im Oberbilker Haushalt bislang unbekannt, konnte aber mit ihrer Mischung aus Rap, R&B, Pop, Trap und Soul punkten. Paint The Town Red wurde mit den Worten angekündigt: „Ist glaube, es ist ein wenig sexistisch“. Oberbilk sieht darin nur eine gehörige Portion Schmutzigkeit und Laszivität. Little Simz aka Simbiatu Abisola Abiola Ajikawo rappte dann mit Venom durchs House. Aufrüttelnder Hip-Hop, härter und packender, mehr UK statt USA. „Wenn ich eine meiner Ausstellungen aufbaue und nachts um drei müde werde, bringt mich Little Simz wieder nach vorne!“ Dem schließen wir uns an, denn es wurde sofort nachgeschenkt. Venom ist vom 2019er Album Grey Area und machte beim Durchskippen auf You Tube einen durchweg knackigen Eindruck. Dann landeten wir in München bei DJ Sepalot und Visions. Sebastian Weiss, früher bei der Hip-Hop-Band Blumentopf aktiv, bescherte uns mit Visions lässigen Indie-Pop. Sängerin Malva nahm uns unaufgeregt mit in ihre Version einer positiv geprägten Gesellschaft, an der mensch festhalten sollte. Visions war einer der 2023er-Lieblingssongs eines Gastes, am Silvestertisch wurde auf jeden Fall kräftig mitgewippt! Es blieb HipHop-lastig und ging nach Frankreich. Bei Doctor Flake featuring Chill Bump wurde der Song Rock On mit den Worten angekündigt: „Eine Urlaubsentdeckung.“ Jean-Marie Léger aka Doctor Flake hat mit Rock On auch den perfekten Song für die einsame Landstraße geschrieben. Die beiden MC’s DJ Bankal und Pierre Scarland des Duos Chill Bump legen in dem Text zusätzlich eine gradlinige Weite an. Man fühlt förmlich, wie die Sonne erbarmungslos auf die Windschutzscheibe knallt, der Staub aufgewirbelt wird, und freut sich auf das kalte Bier am Ende der Tour! Die polnische Band Hańba! präsentierte dann ihre Version von Punk, der nicht im lauten England der 70ger Jahre geboren wurde, sondern in der Zweiten Polnischen Republik der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts. Straßeninstrumente (Banjo, Schlagzeug, Akkordeon, Tuba) werden zu einem eigenen Mix aus Punk, Folk und Klezmer. Die Liveaufnahme des Songs Wojenka zeigt eindrucksvoll das Potential der vier Polen, und mensch kann sich förmlich vorstellen, wie eine entfesselte Crowd vor der Bühne beim „Rock gegen Rechts“ im Düsseldorfer Volksgarten steil gehen würde. Den Abschluss bildete Billy Nomates mit dem Song Spite von ihrem 2023er Album Cacti. Aufmerksam sind wir auf Billy Nomates durch das „Duett“ mit den Sleaford Mods geworden. Legte sie doch bei Mork N Mindy damals eine so gute Performance hin, dass wir uns weiter mit Victoria Ann Maries aus Leicestershire, UK beschäftigen mussten. Schon ihre Stimme sorgte Silvester für Aufmerksamkeit und ließ die Besucher*innen aufmerksam zuhören. Rau, tragend, einprägsam? Auf jeden Fall sehr einzigartig! Musikalisch ist Billy Nomates schwer einzuordnen, (Alternativ)-Rock, (Dance)-Pop, (Synth)-Pop, Electronic? Es tauchen alle möglichen Beschreibungen auf, hilfreich ist da vielleicht, dass sie auf Invada ist. Das englische Label wurde unter anderem von Geoff Barrow (Portishead), mitgegründet. Spite ist auf jeden Fall einer der Songs, den der Oberbilker immer wieder hört. Unter ihrem Alias Tor Marias veröffentlichte sie zum Ende des Jahres in Eigenregie noch ein Tape. Auf Tor lebt sie ihre musikalische Vielseitigkeit quer durch alle Genres noch mehr aus, und auch auf der Bühne überrascht sie immer wieder, hat sich der Oberbilker Haushalt doch schon die verschiedensten Auftritte im Netz angeschaut und hofft inständig, dass Victoria endlich auch das europäische Festland besucht! Weil das Tischgespräch auf John Barry und sein musikalisches Wirken kam – unter anderem hat er für James Bond oder Die Zwei (The Persuaders!) die Titelmelodien komponiert – landete der Soundtrack The Tamarind Seed (Die Frucht des Tropenbaumes) auf dem Plattenteller. The Tamarind Seed ist ein Agententhriller aus dem Jahr 1974 inklusive einer Romanze zwischen einer britischen Mitarbeiterin des Innenministeriums (Julie Andrews) und einem sowjetischen Diplomaten (Omar Sharif). Ein vor der exotischen Kulisse der Karibik und des Kalten Krieges spannend inszenierter Thriller. Auf den Soundtrack selber müssen Mrs. Cave und ich nicht näher eingehen. Dass alle Silvestergäste mehrmals nachfragten, was gerade läuft, spricht für sich selbst. Bei arte wird The Tamarind Seed immer mal wieder hochgeladen, einfach die Augen offen halten, es lohnt sich. Mit Verspätung, vielen Dank DHL, erreichte uns dann nach Weihnachten endlich das neue Witching- Album Incendium. So etwas Brutales und dabei trotzdem Ausgefeiltes haben wir schon lange nicht mehr gehört. Teilweise ultraschneller Black Metal, und dann wieder langsamer Sludge mit angezogener Handbremse. Sängerin Jacqui Powell gibt am Mikro alles, der Rest der Band braucht sich aber nicht hinter ihr zu verstecken. Die sieben Songs haben alles, was es braucht, um Incendium in unseren Metal-Olymp zu erheben. Hoffentlich spielen Witching bei der diesjährigen Europatour in der Nähe, dann sind wir dabei! Denn ein Wiedersehen mit Jacqui, Tatiana, Hazel, Samantha und Nate steht ganz oben auf der Wunschliste für 2024 in Oberbilk. Der erste Hype des Jahres erreichte uns natürlich auch. Sprints aus Dublin veröffentlichten in der ersten Januar-Woche ihr Debütalbum Letter To Self auf City Slang. Mrs. Cave findet es gut, ich finde es brillant und den Hype gerechtfertigt. Für mich persönlich ein Album, das mich komplett „abholt“. Die irische Post-Punk-Band mit Frontfrau Karla Chub entfachen hier eine Dynamik hin, die wieder klarmacht, was Punk mir bedeutet und warum er für mich immer noch so wichtig ist! Harsche Riffs, Gitarrenwände, treibendes Schlagzeug und rauer Gesang. Die Liner Notes auf dem Textblatt sagen alles aus, was Punk ausmacht: This Is An Album For Anyone Who Needs It. An Exploration Of Pain, Passion And Perseverance. Make Noise And Look After Each Other. Mit diesen Worten verabschieden wir uns von euch, ³ Mrs. Cave und der Oberbilker