„Prima facie“ im Schauspielhaus

Die Mühlen der Justiz

In dem Theaterstück „Prima facie“ verklagt eine Star-Anwältin ihren Vergewaltiger, obwohl sie wissen müsste, was ihr vor Gericht blüht.

Ein Prozess ist für die Rechtsanwältin Tessa Ensler in Suzie Millers Drama „Prima facie“ nur ein Spiel, das es zu gewinnen gilt. Der Wahrheitsfindung dient er mitnichten. Sie selbst begreift sich lediglich als Erzählerin der Version ihrer Mandanten – vorzugsweise der Vergewaltigung bezichtigte Männer – und überlässt alles Weitere dem Gericht: „Ich entscheide nicht.“ Einmal macht die von Lou Strenger verkörperte Ensler sich sogar lustig über eine junge Kollegin, die ihren Mandanten ernsthaft fragt, ob er die Tat begangen habe.

Ihr Erfolgsrezept besteht darin, die Klägerinnen durch geschicktes Agieren in Widersprüche zu verwickeln. Mal stellt sie scheinbar ganz naive Fragen, mal gibt sie sich einfühlsam, mal kennt sie kein Vertun und will von den Frauen wissen, ob sie sich selbst ausgezogen oder anderweitig vermeintliche Beihilfe geleistet haben. Das Ziel jeweils: die dem ersten Anschein nach („Prima facie“) eindeutige Beweislage zu erschüttern und die Richter*innen dazu zu bewegen, im Zweifel für den Angeklagten zu entscheiden.

Ihre Virtuosität zeigt sich nicht nur bei der Berufsausübung, sie erstreckt sich auf das ganze Stück. Es ist nämlich eine One-Woman-Show. Als Inszenierung in der Inszenierung erweckt die Bühnenfigur in ihrem Monolog das ganze Personal von „Prima facie“ im Alleingang zum Leben. Opfer, Täter, Staatsanwält*innen, Richter*innen und alle anderen Figuren ruft sie in ihrem 90 Minuten langen Monolog auf.

Die Souveränität gerät allerdings ins Wanken, als Tessa selbst Opfer einer Vergewaltigung wird. Sie geht mit einem Büro-Kollegen aus, mit dem sie schon einmal intim war, und nimmt ihn anschließend mit zu sich nach Hause. Dort allerdings ist ihr nicht nach Sex zumute. Der Alkohol macht sich bemerkbar und die Juristin hängt nur noch über der Kloschüssel. Ihren Begleiter stört das allerdings nicht. Er setzt sich über ihr „Nein“ hinweg und zwingt sie zum Geschlechtsverkehr. Wie unter Schockstarre lässt die Anwältin alles über sich ergehen, nur ihre Hände zittern die ganze Zeit leicht. Als sie alles überstanden und etwas Abstand gewonnen hat, reift dann der Entschluss, den Mann zu verklagen, und damit lernt sie die Rechtsprechung plötzlich aus einer anderen Perspektive kennen.

Vertauschte Rollen

Aber vor den Prozess setzt Regisseur Philipp Rosenthal erst einmal ein ziemlich pompöses Zwischenspiel, das nicht recht zu seinem ansonsten eher kargen Stil passt. Er projiziert ein Meer von Zahlen auf den Bühnen-Hintergrund und lässt – beginnend mit der Ziffer 782 – einen Countdown der Tage bis zum ersten Gerichtstermin ablaufen. Das zieht sich ziemlich und soll es auch, denn Rosenthal will auf diese Weise die quälend lange Zeit des Wartens spürbar machen.

Ihr eigenes Verfahren inszeniert Tessa Ensler als Master of Ceremony ebenfalls wieder selbst, aber viel verdruckster. Der Schwung, mit dem sie am Anfang die Puppen tanzen ließ, ist begreiflicherweise dahin. Auch nützen ihr die vielen Erfahrungen nichts, die sie als Rechtsanwältin sammeln konnte. Sie macht die gleichen „Fehler“ wie die Frauen, die sie als Vertreterin der Gegenseite schon so oft ins Kreuzverhör genommen hatte. Als die Verteidigung von ihr etwa Auskunft darüber verlangt, wie sie sich in der Nacht genau verhalten hat, ob sie Gegenwehr geleistet oder geschrien hat, und sie mit Fragen wie diesen stellen will, durchschaut Tessa die Strategie zwar sofort, trotzdem vermag sie dieser nichts entgegenzusetzen. Auch schwant ihr erst später, dass sie – obwohl sie es besser hätte wissen müssen – mit dem einem dringenden Reinlichkeitsbedürfnis geschuldeten Duschen kurz nach der Tat Beweise vernichtet hat.

Darüber hinaus lässt die Klägerin so manches Mal ihr Gedächtnis im Stich. Konkret weiß Tessa Ensler nicht mehr so genau, was sie mit ihren Armen gemacht hat. Hat sie sich aus Scham selbst den Mund zugehalten, um den Geruch nach Erbrochenem zu verbergen oder war es doch die Hand des Mannes, der sie zum Schweigen bringen wollte? Sie ist sich nicht hundertprozentig sicher. Und das wird ihr letztendlich zum Verhängnis. Der „erste Anschein“ hält nach Meinung der Richter*innen nämlich einer Überprüfung nicht mit der nötigen Gewissheit stand. Sie entscheiden im Zweifel für den Angeklagten.

„Irgendwas muss sich ändern“, mit diesem Resümee tritt Tessa Ensler am Schluss aus ihrer Rolle heraus und in eine neue hinein, die einer Kommentatorin ihres eigenen Falls, die Justiz-Kritik übt. „Thesenhaft“ nennt das die Rheinische Post, und auch anderen Zeitungen missfiel diese Wendung nicht zu unrecht.

Im Grunde wirkt sogar schon unglaubwürdig, dass sich die Frau überhaupt einem Rechtssystem anvertraut, das sie zuvor zynisch als jenseits von Gut und Böse und blind gegenüber solchen Kategorien wie Wahrheit, Schuld und Verantwortung beschrieben hat. Nachvollziehbarer wäre da gewesen, wenn sie im zweiten Teil einen Prozess lediglich im Kopf als Gedankenspiel hätte ablaufen lassen, um ihn anschließend als reale Möglichkeit zu verwerfen. Aber dann hätte sich „Prima facie“ auch um den dramatischen Effekt des Seitenwechsels gebracht.

Aussage gegen Aussage

Trotzdem lohnt das Anschauen, gerade auch im Hinblick auf den Fall „Till Lindemann“, der im letzten Jahr für viele Schlagzeilen sorgte. Wer da den betroffenen Frauen schnell mal eben vorwarf, zwar mit der Presse zu reden, aber vor einer Klage zurückzuscheuen, wird die Motive nach dem Besuch des Stückes vielleicht besser verstehen – nicht nur weil es kein gutes Ende nahm. Die Autorin Suzie Miller ist als ehemalige Strafverteidigerin und Anwältin für Menschenrechte nämlich vom Fach und behandelt das Thema entsprechend kenntnisreich, umfassend und über den Einzelfall hinausgehend. So sind die Gedächtnis-Lücken, die Tessa Ensler ereilen, keineswegs individuellen Defiziten geschuldet, sondern eine normale, der selektiven Aufnahmefähigkeit des Gehirns in Stress-Situationen geschuldete Nebenwirkung der Tat, die bei vergewaltigten Frauen immer wieder auftritt.

Präzise arbeitet Miller zudem die objektiven Schwierigkeiten heraus, vor denen Vergewaltigungsverfahren stehen. In ihnen steht nämlich immer Aussage gegen Aussage. Außenstehende, welche die Tat beobachtet haben, gibt es fast nie. Deshalb müssen die betroffenen Frauen vor Gericht als Zeuginnen in eigener Sache auftreten; „Opferzeugin“ lautet der Fachterminus. „Prima facie“ macht auch sonst deutlich, welche Belastung es darstellt, sich in die Mühlen der Justiz zu begeben, zwingt das die Betroffenen doch, das traumatische Ereignis, das sie vielleicht schon so gut es geht hinter sich gelassen haben, erneut zu durchleben und sich dabei zusätzlich noch der Infragestellung ihrer Wahrnehmung durch die Anwält*innen der Gegenseite auszusetzen.

Ihre Kenntnisse erlauben Miller auch, sich einem komplizierten, aber notorischen Fall zu widmen. Die Beteiligten kennen sich, haben sogar bereits einmal miteinander geschlafen, und das Opfer wehrt sich nicht, sondern bleibt nach außen hin ruhig, während es sich innerlich bis zur letzten Muskelfaser anspannt – laut der Schriftstellerin ein typisches Verhalten. „Alle diese Frauen geben Aussagen zu Protokoll wie: ‚Ich weiß nicht, ich bin einfach erstarrt.‘ Mir war lange nicht klar, dass das eine legitime Reaktion auf eine Bedrohung ist.“

Den Gerichten war das ebenfalls lange nicht klar. Ihnen galten nur offensichtliche Abwehr-Handlungen als Zeichen des Nicht-Einverständnisses. Das ist mittlerweile etwas anders, wie dem Programmheft zum Stück zu entnehmen ist. Wenn Frauen zur Eis-Säule mutieren oder es – konträr dazu – im Guten versuchen und auf ihren Peiniger in betont freundlichem Ton einreden, um ihn von seinem Tun abzubringen, werten die Richter*innen dies nun häufiger als Selbstschutz-Maßnahmen. Vor allem im anglo-amerikanischen Sprachraum fanden „Fawn“ und „Freeze“ als anerkannte Überlebensstrategien Eingang ins Sexualstrafrecht.

Hierzulande aber fallen Urteile gegen Vergewaltiger allzu häufig noch mit der Begründung milde aus, die Frauen hätten „dem Angeklagten nicht frühzeitig klare Grenzen aufgezeigt“ und ihn „durch ihr Verhalten in seinen Fehleinstellungen bestärkt“. Die Jura-Professorinnen Elisa Hoven und Frauke Rostalski haben in einer Studie 86 einschlägige Richter*innen-Sprüche untersucht und kamen zu einem ziemlich beunruhigenden Resultat: „Alle verhängten Strafen befanden sich im unteren Drittel des gesetzlichen Strafrahmens“. Sogar wenn jemand seine Partnerin mit vorgehaltenem Messer zum Sex zwang und damit drohte, bei einer Zuwiderhandlung die gemeinsamen Kinder abzustechen, kam er mit zwei Jahren auf Bewährung davon. „In der teilweise äußerst milden Bestrafung sexueller Übergriffe – nicht zuletzt verglichen mit anderen Delikt-Gruppen – scheint eine Minderbewertung der sexuellen Selbstbestimmung von Frauen zum Ausdruck zu kommen“, konstatieren die beiden. „Irgendwas muss sich ändern“, da hat die Tessa Ensler aus „Prima facie“ wohl recht.

Jan