TERZ 04.24 – GESCHICHTSSTUNDE
Der französische Präsident Macron hat die Entsendung von Bodentruppen ins Spiel gebracht. Französische Truppen im Einsatz gegen Russland? Heine hält das für überhaupt keine gute Idee. Europa müsse sich wehren, heißt es. Die Welt von der Geißel der Despotie befreien? Dieses hehre Ziel hatte sich vor Macron bereits Napoleon auf die Fahnen geschrieben. Dieser „Feldzug“ der Grande Armée gegen Russland endete in einem Fiasko.
Heinrich Heine stand Napoleon, diesem selbsternannten Kaiser, keineswegs unkritisch gegenüber. „Unbedingt liebe ich ihn nur bis zum achtzehnten Brumaire – da verrieth er die Freyheit”, betonte der Dichter.
Der Krieg gegen Russland entwickelte seine eigene Dynamik. Und bald glichen sich der französische Kaiser und der im Kreml residierende Zar „wie ein faules Ei dem anderen“ – zwei Machtmenschen, die ohne Rücksicht auf Verluste handelten, ihre Soldaten verheizten und Terror, Not und Elend über die Zivilbevölkerung des eigenen und des gegnerischen Landes brachten.
Als Knabe hatte sich Heine noch vollends für Napoleon begeistern können. Bereits als die ersten französischen Revolutionstruppen in Düsseldorf Einzug hielten, war der Junge ganz aus dem Häuschen: „Ich freute mich, daß wir Einquartierung bekämen – meine Mutter freute sich nicht.“ Der Tambourmajor „Le Grand“ – er „wußte nur wenig gebrochenes Deutsch“ – lebte nun für einige Wochen bei den Heines und brachte dem Knaben, so lesen wir in „Ideen. Das Buch Le Grand“ (1827), mit Hilfe der Trommel die revolutionären Grundbegriffe bei. Trommelnd erklärte er, was „liberté“ und was „égalité“ heißt. „Er wollte mir mahl das Wort ‚l‘Allemagne‘ erklären“, erinnert sich Heine, „und er trommelte jene allzueinfache Urmelodie, die man oft an Markttagen bey tanzenden Hunden hört, nämlich Dum – Dum – Dum – ich ärgerte mich, aber ich verstand ihn doch.“ Der Tambourmajor zog mit dem napoleonischen Heer weiter gen Osten. Das Ziel: Russland befreien – so zumindest lautete offiziell das von der obersten Heeresleitung ausgegebene „Narrativ“.
Viele Jahre später begegnete der Dichter – mittlerweile hatte er sein Jura-Studium begonnen – dem aus russischer Gefangenschaft zurückkehrenden Tambour wieder. Auf einer Bank im Hofgarten sich in die Vergangenheit zurückträumend, hörte er plötzlich verworrene Menschenstimmen, welche das Schicksal der armen Franzosen beklagten, die nun aus russischer Gefangenschaft zurückkehrten. „Als ich aufsah“, erzählt Heine, „erblickte ich wirklich diese Waisenkinder des Ruhmes; durch die Risse ihrer zerlumpten Uniformen lauschte das nackte Elend, in ihren verwitterten Gesichtern lagen tiefe, klagende Augen […] und seltsam genug! ein Tambour mit einer Trommel schwankte voran.“ Es war tatsächlich Le Grand. „Wahrlich, der arme französische Tambour schien halb verwest aus dem Grabe gestiegen zu sein, es war nur ein kleiner Schatten in einer schmutzig zerfetzten grauen Capotte, ein verstorben gelbes Gesicht, mit einem großen Schnurrbarte [...].“
Le Grand erkannte Heine ebenfalls, und er „zog mich nieder auf den Rasen, und da saßen wir wieder wie sonst, als er mir auf der Trommel die französische Sprache und die neuere Geschichte dozierte.“ Zu schwach zum Sprechen, konnte Le Grand sich trommelnd souverän verständlich machen. Er trommelte wieder die vergangenen Schlachten, „den Kanonendonner, das Pfeifen der Kugeln“, und „ich sah wieder den Todesmut der Garde, ich sah wieder die flatternden Fahnen, ich sah wieder den Kaiser zu Roß – aber allmählich schlich sich ein trüber Ton in jene freudigsten Wirbel, aus der Trommel drangen Laute, worin das wildeste Jauchzen und das entsetzlichste Trauern unheimlich gemischt waren, es schien ein Siegesmarsch und zugleich ein Totenmarsch, die Augen Le Grands öffneten sich geisterhaft weit, und ich sah darin nichts als ein weites, weißes Eisfeld bedeckt mit Leichen [...].“
Dieses 10. Kapitel endet mit dem Tod Le Grands. Die letzten Sätze lauten: „Ich hätte nie gedacht, daß die alte, harte Trommel so schmerzliche Laute von sich geben könnte, wie jetzt Monsieur Le Grand daraus hervorzulocken wußte. Es waren getrommelte Tränen, und sie tönten immer leiser, und wie ein trübes Echo brachen tiefe Seufzer aus der Brust Le Grands. Und dieser wurde immer matter und gespenstischer, seine dürren Hände zitterten vor Frost, er saß wie im Traume, und bewegte mit seinen Trommelstöcken nur die Luft, und horchte wie auf ferne Stimmen, und endlich schaute er mich an, mit einem tiefen, abgrundtiefen, flehenden Blick – ich verstand ihn – und dann sank sein Haupt herab auf die Trommel.“
Darauf vollstreckte Heine den letzten Willen Monsieur Le Grands. Heine hatte „den letzten, flehenden Blick Le Grands sehr gut verstanden, und zog sogleich den Degen aus meinem Stock und zerstach die Trommel.“ Denn die Trommel „sollte keinem Feinde der Freiheit zu einem servilen Zapfenstreich dienen“.
Thomas Giese