TERZ 04.24 – BOOKS
Die Website Rätekommunismus veröffentlicht Texte aus der Geschichte der Arbeiterbewegung, die vor allem mit der Zäsur des Jahres 1914 zu tun haben.
Auf der Website https://raetekommunismus.de sind z.B. Texte von Anton Pannekoek und von der Gruppe Internationaler Kommunisten (GIK), die seinerzeit die Rätekorrespondenz herausgab, wieder zugänglich gemacht worden – und liegen teilweise auch in Printversion vor. Zuletzt wurden verschiedene Schriften von Julian Borchardt veröffentlicht (siehe auch „Die Zeitenwende – Eine historische Parallele?“ https://i-v-a.net/doku.php?id=texts23#die_zeitenwende_eine_historische_parallele).
Der 1868 in Bromberg, dem heutigen polnischen Bydgoszcz, geborene Borchardt wurde nach seinem Studium der Volkswirtschaft in Brüssel Redakteur verschiedener sozialdemokratischer Zeitungen in Deutschland und war zeitweise Abgeordneter der SPD im preußischen Landtag. Außerdem versuchte er als „Wanderprediger“ die Grundlagen der sozialistischen Kritik unter die einfache Bevölkerung zu tragen. In den Jahren 1913 und 1914 wurde sein Verhältnis zur SPD immer angespannter, da er die parteikritische Zeitschrift Lichtstrahlen (https://raetekommunismus.de/Texte_Borchardt.html) herausgab.
Ein Hinweis auf den grundlegenden Charakter des Konfliktes zwischen Borchardt und der Mehrheit der Sozialdemokratie findet sich im Leitartikel „Neue Wege“ der Lichtstrahlen vom Juni 1914: „Aber das wissen wir, dass nur die Massen sich selbst befreien können; kein anderer kann das für sie tun. Dann aber versteht es sich, dass alle heutige Tätigkeit darauf abzielen muss, die Massen für diese ihre schließliche Selbstbefreiung vorzubereiten und zu ‚ertüchtigen‘. Das aber sind keine neuen Wege, sondern es ist der alte Weg, auf dem allein das Proletariat bisher wirklich vorwärtsgekommen ist. Er heißt: keine falschen, übertriebenen Hoffnungen auf die großen Männer setzen, ob mit oder ohne Abgeordnetenmandat, sondern selbst denken, selbst wollen, selbst handeln. Massenaufrüttelung, Massenbegeisterung, Massenbewegung, das ist die Bahn zum Erfolge.“
Anton Pannekoek, Karl Radek, Edwin Hoernle, Franz Mehring und Johann Knief gehörten zu den bekanntesten Autoren der oppositionellen Zeitschrift. Der endgültige Bruch mit der Partei erfolgte dann mit der Zustimmung der SPD-Mehrheit zu den Kriegskrediten am 4. August 1914. In seiner Broschüre „Vor und nach dem 4. August 1914“ (https://raetekommunismus.de/Texte_Borchardt/Borchardt_vor-und-nach-14-August.pdf) erklärte Borchardt die Unvereinbarkeit des Kampfes für den Sozialismus mit dem Verhalten der Sozialdemokratie. 1916 wurde die Zeitschrift Lichtstrahlen verboten, Borchardt in Schutzhaft genommen. Die Zeit nutzte er, um Studien u.a. zur Finanzierung des Krieges zu betreiben (siehe „Woher kommt das Geld zum Kriege?“, Leipzig 1916 https://raetekommunismus.de/Texte_Borchardt/Borchardt_Woher-kommt-das-Geld-zum-Krieg.pdf).
Allerdings gab es in dieser Zeit auch heftige Auseinandersetzungen mit anderen Linksradikalen, vor allem mit der Arbeiterpolitik in Bremen, die Borchardt vorwarf, die Propaganda für den U-Boot-Krieg gegen England durch eine Vorbemerkung zu Karl Erdmanns Buch: „England und die Sozialdemokratie“ unterstützt zu haben. Nach dem Krieg wurde die Veröffentlichung der Lichtstrahlen sofort wieder aufgenommen. Ihre Bedeutung reichte aber nicht mehr an die Zeit zu Beginn des Krieges heran, so dass die Zeitschrift im Jahre 1921 – auch wegen fehlender Finanzierungsmöglichkeiten – eingestellt werden musste.
Borchardt verfolgte wohlwollend die Oktoberrevolution in Russland. In ihr sah er die Möglichkeit einer sozialistischen Umgestaltung (siehe z.B. https://raetekommunismus.de/Texte_Borchardt/Borchardt_Diktatur_des_Proletariats.pdf). Dennoch kritisierte er Gewaltexzesse der Bolschewiki während der Revolution. Im Jahre 1919 veröffentlichte Borchardt kürzere Beiträge zu Grundfragen der kommunistischen Kritik, so über die volkswirtschaftlichen Grundbegriffe nach der Lehre von Karl Marx oder eine Einführung in den wissenschaftlichen Sozialismus. Diese Schriften beruhten auf den Vorträgen, die er vor dem Ersten Weltkrieg gehalten hatte. Die wohl bekannteste Veröffentlichung Borchardts ist seine gemeinverständliche Ausgabe des „Kapital“ von Karl Marx aus dem Jahre 1920. In viele Sprachen übersetzt, kann sie noch heute als eine wichtige Einführungsschrift, verfasst „in einfacher Sprache“, betrachtet werden.
In den folgenden Jahren beschäftigte sich Borchardt vor allem mit geschichtlichen Fragen. Zwei Bände „Deutsche Wirtschaftsgeschichte“ erschienen in den Jahren 1922 und 1924, ab 1927 plante Borchardt eine kritische Bestandsaufnahme der allgemeinen deutschen Geschichte vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zur Gegenwart. Zwar wird in verschiedenen Publikationen diese Schrift erwähnt, aber eine Veröffentlichung ist bisher noch nicht zustande gekommen. In den Archiven des Internationalen Instituts für soziale Geschichte in Amsterdam haben nun die Herausgeber*innen Ippers, Jacobitz und Königshofen und Mitarbeiter*innen der Rätekommunismus-Website Fragmente des Manuskripts ausfindig gemacht und den ersten Band der „Deutschen Geschichte“ veröffentlicht.
Borchardt blickt hier – stilistisch wie inhaltlich respektlos – auf die Herrschaften in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg zurück. Seine Sicht auf die Geschichte unterscheidet sich erheblich von der üblichen Geschichtsschreibung vor und nach dem Ersten Weltkrieg, die die Triebkräfte der Geschichte in den guten und schlechten Charakteren der Fürsten, Könige und Kaiser vorzufinden glaubte. Borchardt hingegen untersucht die konkreten politischen und ökonomischen Umstände der damaligen Zeit und erklärt so die geschichtlichen Abläufe.
Die damalige bürgerliche Geschichtsschreibung folgte der nationalmoralischen Leitlinie, die Staatsverfassung und das Staatshandeln des deutschen Kaiserreiches vor dem Ersten Weltkrieg als Konsequenz der Politik der Hohenzollern-Fürsten und Könige zu verklären. Da blieb es nicht aus, dass die Historiker*innen manche Purzelbäume schlagen mussten, wenn sie Intrigen und Bestechungen, Kriege und die gnadenlose Ausbeutung der armen Bevölkerung als geniale Schachzüge charakterisierten und so mit einem Heiligenschein versahen. Besonders ärgerte es Borchardt, dass durch die Geschichtsverfälschungen und -verdrehungen auch noch die Jugend in der Weimarer Republik verseucht wurde, um sie zu stolzen Staatsbürger*innen zu erziehen.
Die Herausgeber*innen vermerken hierzu allerdings kritisch, dass Borchardt in der Geschichte eine fast mystische Kraft der Vorwärtsentwicklung am Werk sah. Ganz dem historischen Materialismus verpflichtet, bewertete die Entstehung des Nationalstaates als eine notwendige Voraussetzung für die revolutionäre Umgestaltung der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft, alles getreu dem quasi vorherbestimmten Schema „Feudalismus – Kapitalismus – Sozialismus“ folgend. Da bekam z.B. Ludwig XIV., der bei den vaterländischen Geschichtsschreibern Deutschlands einfach nur als raubgieriger Herrscher galt, ein dickes Lob, weil er beim Aufbau des Absolutismus die widerstreitenden Provinzen Frankreichs zu einem Staatsganzen zusammenführte und somit die Vorbedingungen der Industrialisierung in Frankreich schuf. Hingegen verhinderte die kleinkrämerische Kleinstaaterei der deutschen Fürsten unter einem machtlosen Kaiser in Wien eine derartige Entwicklung, war also Feind des Fortschritts.
Natürlich war Borchardt klar, was diese progressive Entwicklung für die neu entstandene Klasse der Lohnarbeiter*innen bedeutete: Die fast unvorstellbare Not der arbeitenden Bevölkerung beruhte auf dem Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital. Aber durch dieses Jammertal musste das Proletariat eben durch, wollte es als Klasse das Licht der Freiheit und des Wohlergehens im Sozialismus erleben. So gesehen bewegte sich der mutige Außenseiter Borchardt dann doch wieder im Rahmen dessen, was damals in sozialdemokratischen Kreisen (aber mit Abwandlungen auch im Leninismus) als marxistische Theorie galt.
Nachweise:
* Website Rätekommunismus: https://raetekommunismus.de
* Karl Marx, Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie. Gemeinverständliche Ausgabe, besorgt von Julian Borchardt. Berlin 1920/1931, online verfügbar bei: https://raetekommunismus.de/Texte_Borchardt/Borchardt_1920_1931_Kapital.pdf
* Julian Borchardt, Deutsche Geschichte - Band I: Die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts. Neu herausgegeben von Ursuala Ippers/Hans-Peter Jacobitz/Thomas Königshofen. Neuss 2024, 237 Seiten, ISBN 979-8879492408, erhältlich bei Amazon https://amazon.de/dp/B0CVNHP1N1