Die Kunst findet nicht im Saale statt

Vor einem halben Jahrhundert, im Januar 1974, flog Joseph Beuys in die USA. Kein Happening, keine Fluxusaktion, keine Ausstellung stand an, sondern der Ex-Professor diskutierte mit Studierenden in New York, Chicago und Minneapolis den Kunstbegriff und die Idee seiner „Sozialen Plastik“. Begleitet wurde er von Klaus Staeck, der am Ende von ihm wissen wollte: „Hat Dich nicht überrascht, dass wir auf der ganzen Reise praktisch keine direkt harte Frage gestellt bekamen, was die aktuelle Politik anbelangt?“ Immerhin waren sie auf dem Höhepunkt der Energiekrise „im Mutterland der Verschwendung“. Zeitungen erschienen mit der Headline: „Die 18 Minuten auf Nixons Tonband wurden absichtlich gelöscht.“ Und er habe, so Staeck, auf der ganzen Reise nicht einmal das Wort „Chile“ gehört. „Hättest Du nicht vielleicht mehr angreifen müssen, um aus dieser merkwürdigen Pudding-Atmosphäre rauszukommen?“ Puddinghaft die Antwort: „Ja, ich habe ja versucht, ab und zu anzudeuten, was mit Vietnam war und solchen Dingen. Aber es war mir im Augenblick nicht darum zu tun, Kritik zu üben, sondern ich wollte was ganz Positives vorstellen.“ Wenige Monate später kettete sich in Athen Günter Wallraff auf dem Platz der Verfassung an und verteilte Flugblätter. Im Jahr zuvor war ein Studentenaufstand am Athener Polytechnikum blutig niedergeschlagen worden. Bei seiner Aktion trug Wallraff bewusst weder Personalausweis noch Pass bei sich. Er wollte behandelt werden wie jeder x-beliebige Grieche. Geheimpolizisten des Obristenregimes misshandelten und inhaftierten ihn. Staeck schuf ein Plakat mit einem Foto des zu Boden geschlagenen Wallraff, Aufschrift: „Die Kunst der 70er Jahre findet nicht im Saale statt.“

Am 11. September des Vorjahrs hatte in Chile das Militär mit massiver Unterstützung der USA geputscht. 1977, zum 4. Jahrestag dieses Pinochet-Putsches, wurde in Düsseldorf mit einem Wandbild daran erinnert. Der damalige Lehramtskandidat Willi Oesterling malte drei Militärpolizisten auf die Fassade eines Abrisshauses an der Grafenberger Allee. Im Bildband „Mit Vollgas in die Wände“, in dem die Wandmalgruppe Düsseldorf 1984 ihre Erfahrungen mit Kunst im Öffentlichen Raum resümiert, wird beschrieben: „Die Struktur des Hauses wurde im Bild aufgegriffen, indem die zugemauerten Fenster des Hauses durch gemalte Gitterstäbe zu Gefängnisfenstern wurden.“ In großen Lettern stand drüber: „Chile 1973-77“. Im November 1977 reiste dann Franz Josef Strauß nach Chile. In Chile sei, so der CSU-Vorsitzende gegenüber der Presse, dank des Generals Pinochet, „der innere Friede garantiert.“ Aufgrund dieser skandalösen Äußerung wurde das Wandbild aktualisiert, der mittlere Soldat durch einen mit beiden Fäusten drohenden Strauß ersetzt. Die Überschrift lautete nun: „Chile + Terror + Strauß“. Im Bildband die Erläuterung: „Im Zusammenhang mit der Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer durch die RAF wurden viele kritische Bürger verdächtigt, Sympathisanten oder Mithelfer der RAF zu sein.“ Die Überschrift stelle „die Frage nach den Sympathisanten des Terrors neu.“

Eines Morgens waren die Soldaten und Strauß weiß übertüncht. Als Reaktion auf diese Bilderstürmerei schrieben die Maler „zensiert“ quer über die Wand. Bei der Aktualisierung des Bildes war bereits ein zweiter dabei, ein dritter kam hinzu. In der Lokalpresse hießen sie nun „Die drei Mauermaler von der Grafenberger Allee“. Anwohner*innen malten jetzt bei Malaktionen fleißig mit. Auf der Wand prangte schnell ein neues Bild: Eine riesige rote Nelke verbunden mit einem Aufruf zum 1. Mai.

Abbild der ökonomischen Besitzverhältnisse

Sein Vorwort zu dem 1984 erschienen Bildband „Mit Vollgas in die Wände“ lässt Georg Heinzen mit einer Analyse der Besitzverhältnisse und den Folgen für das urbane Erscheinungsbild beginnen: „Wenn sich beim Stadtbummel ein plötzliches Verlangen nach Slip-Einlagen oder Edelkirsch einstellt, dann liegt das vor allem daran, dass die öffentliche Bildwelt der Städte ein Abbild der ökonomischen Besitzverhältnisse ist.“ Die Außenwelt sei ein attraktiver Markt, und da habe jeder Zugang, der genügend Geld mitbringe. Der dürfe „unter Umständen ein ganzes Viertel visuell umgraben“, und diese „visuelle Nötigung“ führe „nicht nur ein subversives Dasein in unserem Unterbewusstsein, sondern dominiert die Öffentlichkeit mit einer monotonen Ästhetik der Waren.“ Das Image der Produkte wiederhole sich „in der Gestaltung der Verkaufsräume“, und so sehe „McDonalds in Flensburg nicht anders aus als in Berchtesgaden.“ Heinzen resümiert: „Wie der Boden unter unseren Füßen aufgeteilt ist in private Parzellen, und den meisten von uns so wenig gehört wie unsere Wohnung und unser Arbeitsplatz, so haben wir auch kein Verfügungsrecht über die öffentlichen Bilder.“ Demokratie werde unter solchen Bedingungen zur Farce: Anwohner*innen dürfen den Planer*innen in die Projektierung einer Schnellstraße nicht hineinreden. „Aber sie dürfen anschließend die Farbe aussuchen gehen für die Lärmschutzwand, hinter der sie ihre Nachbarn nicht mehr sehen können.“ Als Reaktion entstand eine erstarkende Gegenbewegung. Ein neues Selbstbewusstsein „von unten“ bildete sich. Von einer „befreienden Inbesitznahme des öffentlichen Betons“ spricht Heinzen. Und die „Schmierereien“, welche die Besitzenden „als Anschlag auf die Autorität des Privateigentums“ begreifen, hätten „in der Tat hartnäckigere Folgen, als sie mit einem kräftigen Reinigungsmittel zu beseitigen wären.“

Im gleichen Jahr, in dem der Wandmaler-Bildband erschien, hatte sich in Düsseldorf eine Initiative gegründet, die sich dafür stark machte, den Salzmannbau auf dem zum Verkauf stehenden Jagenberggelände in ein Haus für Initiativen und für Künstler*innenateliers umzuwandeln. Der Künstler Stephen Reader erinnert sich: „Hella und ich kannten ähnliche Modelle in Großbritannien, hatten mit denen auch Kontakt aufgenommen und mit ihnen konferiert, was man da in Düsseldorf starten könnte.“ Anwälte wurden konsultiert: Was für eine Körperschaft ist die beste? Mit Christoph Zöpel, NRW-Minister für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr wurde verhandelt. Anfang 1985 folgte eine Besprechung im zakk mit der LEG (Landesentwicklungsgesellschaft in NRW; heute: LEG Immobilien, ein börsennotiertes Wohnungsunternehmen). Im Frühsommer 1986 dann eine erste Ausstellung, Titel: Die Torte. „Wir wollen ein Stück von der Torte, einen Anteil von städtischen Geldern, von Einblick in die Kunstwelt, von Artikulationsmöglichkeiten, Ausstellungsorten, Ateliers.“ Dieses eiskellerberg.tv-Interview mit Reader ist ins Netz gestellt. Dort findet sich auch eine detaillierte und sehr informative Chronik des zehnjährigen Kampfes für die Umnutzung des Gebäudes.

Kunst, Künstler*innen und Initiativen wirkten hier ganz direkt in die Stadtgesellschaft hinein, nahmen selbst Dinge in die Hand. Im Herbst 1986 wurde in zwei Werkshallen auf dem Jagenberggelände eine zweite Ausstellung organisiert. Zwölf Künstler*innen präsentierten Installationen und Werke, wobei alle zwölf, so das Konzept, jeweils eine/n Gastkünstler*in einluden. Der im April diesen Jahres verstorbene Rüdiger „Tschibbi“ Wich lud den Leipziger Maler Hartwig Ebersbach ein, dem die DDR-Behörden jedoch die Ausreise verweigerten. Eberbachs Arbeiten waren dann aber in den Hallen zu sehen. Zu den Gastkünstler*innen zählte auch Klaus Staeck, der einen riesigen Haufen Sand, teilweise in Säcken verpackt und gestapelt, präsentierte, Titel: „Sand im Getriebe.“ Ein frischer Wind wehte durch die Hallen ...

Das Aufrührerische war wieder gefragt

Die Kunsthistorikerin Anna Klapheck, eine Chronistin Düsseldorfer Geschichte im 20. Jahrhundert, hatte die Zeit des „Jungen Rheinlands“ noch miterlebt. Angezogen von der einstigen Backwarenverkäuferin und zur Kunsthändlerin aufgestiegenen Johanna Ey siedelten Künstler, wie z. B. 1922 Otto Dix, nach Düsseldorf über. Das Schaufenster der Galerie wurde zum Skandal, an dem sich die Bürger*innen vor sittlicher Erregung die Nase platt drückten. Anna Klapheck erinnert in „Mutter Ey – eine Künstlerlegende“(1958) daran, wie im April 1933 „die braunen Kolonnen“ über den Hindenburgwall (der heutigen Heinrich-Heine-Allee) marschierten. An Eys Schaufenster „kleben Boykottzettel mit üblen Verunglimpfungen von Frau Eys Person, etwas später sperrt man ihr Licht und Gas.“ 1977 erschien ein Reprint des Büchleins. Im Vorwort registriert Klapheck einen Wandel: In den Fünfzigern hatte die Kunstwelt „im Banne der abstrakten Kunst“ gestanden, „Realismus und Surrealismus waren von den Erfindungen der reinen Form verdrängt worden.“ Doch Johanna Eys Herz habe stets „für die Leidenden und Unterdrückten“ geschlagen. Zufrieden konstatiert die Kunsthistorikerin 1977: „Die Kunst von heute hat zur Wirklichkeit zurückgefunden, das Aufrührerische ist wieder gefragt. So ist auch die Kunst, für die Johanna Ey so tapfer stritt, heute aktueller als vor zwanzig Jahren …“

Otto Dix, Goya und die Rote-Button-Aktion

Zum Wintersemester 1977/78 hatte ich mein Studium an der Düsseldorfer Kunstakademie begonnen. Ich hielt mich, so vermute ich mal, öfter auf der Ratinger Straße auf als in der Akademie. Dort kellnerte „Tschibbi“ in rotem Blouson mit großen applizierten DKP-Initialien – sowohl im „Hof“ wie im „Einhorn“. Die Akademie war mir zu schnöselig. Überheblich wurde dort auf Pflastermalerei hinabgeblickt: „Das Volk“ wolle nun einmal Kitsch und nichts anderes. Ich machte die Probe aufs Exempel, kopierte Otto Dix, Max Ernst, George Grosz, James Ensor in der Fußgängerzone. Mein größter Erfolg war Goyas „Inquisitionstribunal“ als Pflasterbild. Ich schrieb mit Kreide daneben: „Francisco Goya: Inquisitionstribunal oder Anhörungsverfahren zwecks Einstellung in den Öffentlichen Dienst“.

Umstehende begannen hitzig über die Berufsverbote zu diskutieren. Eine Frau war so begeistert, dass da endlich mal was anderes aufs Pflaster kam als die ewigen Madonnen und Mona Lisas, dass sie mir einen Fünfmarkschein in die Hand drückte. Für den Rest der Semesterferien trampte ich nach Spanien. Nach dem Tod Francos war die Wandmalbewegung aus der portugiesischen Revolution in den Norden der iberischen Halbinsel hinübergeschwappt. In Barcelona blühte sie besonders. Herbst 1978 war ich dabei, als sich in Düsseldorf die Wandmalgruppe, in der zeitweise bis zu zehn Künstler*innen, Grafiker*innen und Studierende anderer Fachrichtungen aktiv waren, gründete. Viele waren schon zuvor in der Öffentlichkeit aktiv, setzten ihr Engagement auch danach fort. Anne Aumann, die Januar 1981 zur Gruppe stieß, war bereits 1970 als siebzehnjährige Realschülerin federführend bei der Rote-Punkt-Aktion in Herford tätig. Nach dem Ende der Wandmalgruppe im Jahr 1991 brachte sie ihre Aktionsideen ins Friedens- und Sozialforum ein, realisierte Projekte mit Sambazillus und dem Rhein-Pörkaschn-Ohrkästa, war tonangebend bei den „Unorganisierten Pappnasen n. e. V.“(nicht eingetragener Verein). Ihr nachhaltigster Erfolg war die Rote-Button-Aktion, eine Idee, die sie 2009 beim Mittwochsfrühstück der Erwerbslosen und prekär Beschäftigten einbrachte und die gemeinsam mit der Düsseldorfer Initiative für ein Sozialticket und vielen weiteren Initiativen und Gruppen umgesetzt wurde. Die Kampagne wurde in anderen Städten im VRR-Gebiet übernommen. Die Lokalzeit Düsseldorf berichtete, der Verkehrsverbund warnte sogar via WDR, die Mitnahme einer zweiten Person auf einem Monatsticket bewege sich in einer rechtlichen Grauzone. Bullshit! Nirgendwo ist festgeschrieben, dass mit einem Ticket 2000, Ticket 1000 oder Firmenticket nach 19 Uhr oder am Wochenende ausschließlich eine Person ersten oder zweiten Verwandtschaftsgrades mitgenommen werden darf. Am Ende waren im Verkehrsverbund mehr als 8.500 rote Buttons im Umlauf. Damit übertraf diese „Soziale Plastik“ selbst noch das Projekt „7000 Eichen“ von Joseph Beuys.

Die apokalyptischen Reiter und ein Fußtritt für Obdachlose

Und heute? Die Ausstellung zum 30-jährigen Jubiläum des Salzmannbau-Umbaus Anfang Mai beschränkte sich fast ausschließlich auf brave Kunst- und Bilderproduktion. Als „Gastkünstler“ war Klaus Staeck auch wieder dabei. Er präsentierte u. a. ein Plakat mit einer Reproduktion von Dürers apokalyptischen Reitern – Krieg, Terror, Krankheit, Tod und Hunger symbolisierend. Staeck hat die Embleme von amazon, apple, google und facebook drübergepappt. Der im April verstorbene Tschibbi präsentierte unter anderem ein kleinformatiges, eingepacktes Bild auf einer Staffelei. Ein Hinweis, dass Kunst eben nicht im Saale stattfindet? Für eine solche Interpretation spricht, dass er als Gastkünstler Stephen Reader einlud. Reader beschränkte seine Kreativität nie allein auf die Kunstproduktion. Nicht nur beim Projekt Salzmannbau-Umbau war er aktiv, zusammen mit Tschibbi zählte er z. B. auch 1997 zum vierköpfigen Orgateam der großen POOL-Ausstellung im zum Abriss freigeräumten Wellenbad. Die Harmlosigkeit der Jagenberg-Jubiläumsausstellung (zum Zeitpunkt des Ausstellungsaufbaus war Tschibbi bereits verstorben; diesen übernahm Stephen Reader) spiegelt aber keineswegs die der Düsseldorfer Kunstszene wieder. Die Umgestaltung des Reeser Platzes mit dem Nazi-Kriegerdenkmal, durch einen Antrag von „Die Linke“ angeschoben, ist ein Beispiel für eine aktive Mitsprache der Öffentlichkeit. Der von einer Jury ausgewählte Siegerentwurf wurde aufgrund von massiver Kritik, unter anderem in Form eines offenen Briefs renommierter Künstler*innen, angefangen von Gerhard Richter über Katharina Sieverding bis Klaus Staeck, nicht realisiert, so dass sich der Diskussionsprozess weiter fortsetzt. Aktuell zeigt die fiftyfifty-Galerie u. a. die Ausstellung „Himmel über der Straße“, in der Künstler*innen wie Andreas Gursky, Imi Knoebel, Thomas Ruff, Thomas Struth, Rosemarie Trockel sich mit dem Thema „Armut und Obdachlosigkeit“ auseinandersetzen. Zu sehen sind dort auch Arbeiten aus Struths Projekt „Obdachlose fotografieren Passanten“, bei dem Struth Wohnungslosen eine Kamera in die Hand drückte und sie technisch instruierte. Jeder Mensch ist folglich nicht nur ein Künstler, sondern auch Fotograf. Für die fiftyfifty-Galerie hieß es allerdings bei der Düsseldorfer „Biennale photo+“: „Wir müssen draußen bleiben!“ Ohne Begründung wurde die Bewerbung von fiftyfifty mit dem Projekt „Himmel über der Straße - Topografie der Obdachlosigkeit“ abgelehnt. Obdachlose sind in der Landeshauptstadt offensichtlich unerwünscht. Der von vielen unterzeichnete Offene Brief an den Düsseldorfer Oberbürgermeister und die Beigeordnete für Kultur ist nachzulesen auf https://fiftyfifty-galerie.de

Thomas Giese

Zitate aus:
Anna Klapheck: „Mutter Ey – eine Künstlerlegende“, Düsseldorf 1958, Reprint 1977
Thomas Giese, Klaus Klinger, Willi Oesterling, Gert Trostmann: „Mit Vollgas in die Wände – Wandbilder, Objekte, Figuren, Masken der Wandmalgruppe Düsseldorf“; Frankfurt a. M. 1984.
Der Quirl. Interview mit Stephen Reader/Chronik des Kampfes um den Salzmannbau.
https://eiskellerberg.tv/der-quirl-oder-der-kampf-um-den-salzmannbau