Spurensuche in Oberbilk

Im März stellte die Geschichtswerkstatt Oberbilker Geschichte(n) ihr Buch „Oberbilk hat es in sich“ einer zahlreich anwesenden Öffentlichkeit vor. Der Ort, den die Autoren für ihre Präsentation wählten, die Josef-Kirche Nähe Oberbilker Markt, konnte nicht passender sein.

Diesmal nahmen die Autoren kein Blatt vor den Mund. Horst A. Wessel sprach klar und deutlich von „Zwangsarbeit“, als es um die Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte für die Düsseldorfer Stahlindustrie während des 2.Weltkrieges ging. Eine Korrektur, die sich leider (noch) nicht in seinem Beitrag im vorliegenden Buch wiederfindet.

Hintergrund: Die TERZ hatte Teile der Beiträge bereits in mehreren Folgen Anfang 2022 abgedruckt. Damals war die Formulierungen von Horst A. Wessel nicht nur einem Leser unangenehm aufgefallen. „Es gab während des Zweiten Weltkriegs in den Oberbilker Stahlwerken, wie in allen anderen Großbetrieben auch, zahlreiche „ausländische Arbeitskräfte“ (!), wie sie Herr Horst A. Wessel selbst euphemistisch nennt, die damals als Ostarbeiterinnen und Ostarbeiter bezeichnet wurden und, das schreibt er nicht, unter einem drakonischen und rassistischen Regiment in elenden Barackenlagern oder Fabrikhallen leben mussten. Von der Gestapo kontrolliert, von den deutschen Vorarbeitern oftmals schikaniert und misshandelt, bei der geringsten Übertretung der drakonischen Reglementierungen ins KZ eingeliefert. Man sollte sie als das bezeichnen, was sie waren: Zwangsarbeiter*innen! Nicht weniger.“ schrieben damals zwei Leser an die TERZ.

Die vier Autoren der Oberbilker Geschichte(n) möchten sich mit ihren Beiträgen und in den sie begleitenden Stadtführungen gemeinsam mit den Oberberbilker*innen auf eine Spurensuche begeben und so ein gemeinsames Bewusstsein für die Geschichte des Stadtteils schaffen. Das ist ein nicht ganz einfaches Unterfangen, denn nichts ist heute mehr von der einst hier so mächtigen Stahlindustrie zu finden, und erst recht nichts von der damals „sehr engagierten, schlagkräftigen und radikalen Arbeiter*innenschaft“. Bezüglich letzterer vermag das Buch auch nicht, die hier vorhandenen Leerstellen zu füllen.

Dennoch: Mit den unterschiedlichen Blickwinkeln der vier Autoren ist das Buch eine wahre Fundgrube, nicht nur für Oberbilker*innen, die man als Zielgruppe im Auge hat.

Die Geschichte von Industrialisierung und Deindustrialisierung Düsseldorfs wird hier exemplarisch für alle Düsseldorfer*innen verhandelt.

„Auf Dämme hochgelegt, umgaben die Gleise das Quartier wie ein Oval, schufen einen kleinen Kontinent, umschlossen ihn durch einen hohen Wall wie eine chinesische Mauer, die die Grenze zu anderen Erdteilen bildeten. Die Hauptausgänge zur Stadt... waren langgezogene unter vielen Gleisen durchführende Höhlengänge, dämmrige, ständig tropfende von Kohlenstaub der Lokomotiven verrußt, von hallenden Donnern der darüber fahrenden Zügen erschreckte, vom weißen Dampfschwaden durchzogene Vorhöllen. Ausgangstore in eine andere, fremde, oft ganz und gar unbekannte Welt, Eingangstore in das heimatliche Quartier. ... Düsseldorf (war) ein nicht existierendes Land und umgekehrt Oberbilk für Düsseldorf ein weißer Fleck auf der Stadtkarte, terra incognita, ein unbekanntes Gebiet voller Gefahren, wo man seines Lebens nicht mehr sicher war, hingegen für die, die hier lebten, der einzige Ort der Welt, an dem man sich sicher fühlte, allerdings musste man die ungeschriebenen Gesetze kennen…“

So beschreibt der in Oberbilk geborene Autor Dieter Forte die Insellage seines Stadtteils nach dem Bau des Hauptbahnhofs. Heute erinnert wenig an die Vergangenheit dieses Stadtteils als führenden kontinentalen Standort für die Röhren-Produktion und an die dort lebenden Menschen, für die die Arbeit in der Industrie das verbindende Element war.

Was von alledem sichtbar und erfahrbar geblieben ist, sind die von Dieter Forte beschriebenen Höhlengänge unter den Gleisen vom Mintropplatz zur Ellerstraße und vom Worringer Platz zur Kölner Straße.

Die industrielle Vergangenheit Oberbilks ist für heutigen Bewohnern des Stadtteils ähnlich wenig greifbar wie etwa Spuren und Geschichten der vorindustriellen Nutzung dieses Terrains. 1852 zählte die Dorfschaft Oberbilk lediglich 972 Einwohner, ein vergessenes „Fleckchen Erde, das jahrhundertelang als Ödnis unter einem offenen Himmel lag, Sand und gestreut einsames Gehölz und unbekannte Wege zwischen Morgen- und Abenddämmerung, Sonnen- und Regentagen“ (Dieter Forte)

Eigentlich ist das industrielle Oberbilk für Düsseldorf immer fremd geblieben. Die Regierungs- und Residenzstadt verfügte Mitte des 19. Jahrhunderts über keine nennenswerte gewerbliche Wirtschaft, wie etwa die prosperierenden Textil-Städte Wuppertal und Krefeld in der Nachbarschaft. Ausschlaggebender Faktor für Ansiedlung von Industrie in Oberbilk durch Unternehmen von außerhalb, aus der Eifel und aus der Wallonie in Belgien, war der Anbindung des Terrains an eine Eisenbahnlinie, der Nähe zum Rhein und der Verfügbarkeit von billigem Grund und Boden.

Ab 1850 wird „in einem Schöpfungsakt von wenigen Jahren aus dem stillen, Gott vergessenen Brachland ein vibrierender, feuerspeiender, ohrenbetäubender Ort... Industrienten hießen die Erbauer dieser neuen Welt, die wie vulkanisches Urgestein schnell aufschoss aus kleinen Werkstätten immer größere Fabriken schuf, aus kleinen Wohnhäusern immer größere Ansiedlung“ (Dieter Pforte, das Muster 1992)

Horst A. Wessel, bis 2011 Vorsitzender des Düsseldorfer Geschichtsvereins und zwischen 1983 und 2008 Leiter des Mannesmann-Archivs, beschreibt in seinen zwei Beiträgen für das vorliegende Buch die Entwicklung von der Industrialisierung bis zur Deindustrialisierung vor allem aus Unternehmensperspektive. Es gibt noch zwei Reliefs am Hinterausgang des Hauptbahnhofs, die als einzige heute noch an das hier einst stehende Sahlwerk erinnern. Wessel entfaltet eine umfängliche Unternehmens- und Industriegeschichte dieses Raums, gespickt mit detailreichen Einzelfunden aus seiner archivarischen Tätigkeit. Besonders liegen ihm die Verdienste der Unternehmerfamilien Poensgen am Herzen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Röhren-Produktion aus Gemünd in der Eifel hierhin verlagerten. Insgesamt wirken die beiden Beiträge zur Industrie- und Unternehmensgeschichte etwas langatmig, wenig pointiert und systematisch, sehr sprunghaft und nicht zuletzt oft redundant.

Aus Unternehmensperspekive sind die Arbeitenden eben nur ein Standortfaktor unter vielen, mit denen sich das Kapital auseinandersetzen muss. Bezüglich der notwendigen Investitionen sind die Ausgaben für Manpower nur ein eher kleiner Faktor. „Auf den Personalaufwand fiel der mit Abstand geringere Teil der Produktionskosten“. Die Akkumulation von Kapital für teure Produktionsanlagen rechnet sich nur, wenn diese rund um die Uhr betrieben werden: der Beginn der Schichtarbeit, zunächst 12 Stunden am Tag und 6 Tage die Woche.

Arbeitskämpfe, gewerkschaftliche Organisation, politische Aufstände, aber auch die Folgen der Niederlagen im Ersten und Zweiten Weltkrieg geraten in dieser Sichtweise eher zu Unbillen, mit denen das Unternehmertum unter anderem halt zu kämpfen hat. „Die unmittelbaren Nachkriegsjahre brachten bürgerkriegsähnliche Verhältnisse, die monatelang im Stahlwerk keine geordnete Fabrikation erlaubten. Die Produktion stockte; die Vorstände und leitenden Mitarbeiter wagten nicht, das Werk zu betreten und flohen zum Teil auf die andere Rheinseite zu den alliierten Besatzungstruppen, um sich in Sicherheit zu bringen“, schildert Wessel die Lage nach dem Ersten Weltkrieg. Infolge der Ruhrbesetzung durch französische und belgische Truppen 1923 und der folgenden Inflation „waren Unruhen, Streiks und Aussperrungen nicht zu vermeiden.“

Die Menschen in Oberbilk als handelnde und leidende Subjekte rückt der Arzt Dieter Sawalies in seinem Beitrag in den Fokus. Zum Ausgangspunkt seiner Spurensuche wählt das ehemalige Mitglied der Bezirksvertretung 3 den Oberbilker Markt. Der Oberbilker Markt ist der einzige zentrale Platz des Stadtteils, obwohl er nie den Charakter eines „richtigen“ Platzes hatte, er war weder Aufmarschplatz noch Versammlungsstätte. Er war eher ein Verkehrsknotenpunkt zwischen Handwerksbetrieben, Fabriken und Wohnbauten, an den damaligen Bahngleisen der Köln-Mindener Eisenbahnstrecke gelegen. Für die Arbeiterbewegung spielte dieser Platz jedoch eine große Rolle, etwa in der Novemberrevolution 1918-19, als der Stadtteil eine Hochburg des revolutionären Arbeiter- und Soldatenrats mit seiner Forderung nach einer Räterepublik war. Rund 40 Menschen kamen bei den blutigen Kämpfen an den Barrikaden am Oberbilker Markt und in der Nähe der Ellerstraße ums Leben.

Nichts erinnert hier heute an diese politischen Auseinandersetzungen. Auch erinnert nichts mehr daran, dass hier 1941 nach dem Absturz eines britischen Bombers einige Wohnhäuser an der Kruppstraße völlig ausbrannten und dabei 63 Bewohner ums Leben kamen. Und nur wenigen Passanten dürften sich bewusst sein, dass sich weiterhin unter dem Oberbilker Markt ein Bunker für 434 Personen befindet, dessen Baugrube von französischen Kriegsgefangenen ausgehoben wurde. Und nur eine kleine Metalltafel neben dem Polizeirevier erinnert an den Juden Moritz Sommer, einem Handwerker, der sich in Oberbilk verstecken konnte, bis er zwei Tage vor Kriegsende aufgespürt wurde und zur Abschreckung für alle sichtbar am Lüftungsschacht des Bunkers aufgeknüpft wurde.

Die städtebaulichen Überplanungen des Oberbilker Marktes haben gegen Widerstände aus der Bevölkerung nicht nur diesen Lüftungsschacht abgeräumt, auch der Versuch, den auf diesem Platz agierenden Personen etwa durch Straßenumbenennungen zu gedenken, wurde abgeblockt. Der Neubau des Landgerichts in unmittelbarer Nähe sollte dem Quartier dann ein ganz anderes Image geben. Der Platz wurde über die Kölner Straße hinaus erweitert, Hier steht jetzt - etwas verloren - eine Puschkin-Statue, Überbleibsel des vergeblichen Versuches, hier ein russisches Handelszentrum zu errichten. Aber das wäre schon wieder eine ganz andere Geschichte.

Erfrischend der Beitrag des ehemaligen Polizeibeamten Dirk Sauerborn, der zuletzt als Kontaktbeamter und interkultureller Ansprechpartner (nicht nur in Oberbilk) tätig war. Er konzentriert sich kleinräumig auf das sogenannte Maghreb-Viertel (Ellerstraße/Mintroppplatz) und die jüngere Geschichte Oberbilks, die mittlerweile auch schon siebzig Jahre bis in die 60er des letzten Jahrhunderts zurückreicht. Dabei gelingen Sauerborn beeindruckende Portraits von marokkanischen Persönlichkeiten, die dieses Viertel geprägt haben und mit denen er als Kontaktbeamter über Jahre die Verbindung gepflegt hat. Dabei sind eine Reihe von sehr persönlichen Portraitfotografien einiger dieser Akteure entstanden, die nur jemandem möglich sind, der über Jahre das Vertrauen der Bewohner dieses Stadtteils erworben hat.

Last but not least der abschließende Beitrag von Helmut Schneider „Düsseldorf-Oberbilk: Vom Hinterhof der Stadt zum begehrten Immobilienstandort“. Schneider gelingt es, einen Brücke von der Geschichte des Stadtteils zu den aktuellen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen zu schlagen. Schneider mischt sich immer wieder aktiv politisch in die städtebauliche Entwicklung Düsseldorfs und die Auseinandersetzung um bezahlbaren Wohnraum ein und zählt mittlerweile zu einem der festen und unverzichtbaren TERZ-Autoren.

Am Samstag, dem 22. Juni 2024 um 14 Uhr wird der Oberbilker Geschichtsverein sein Buch Oberbilker Geschichte(n) in der BiBaBuZe im Rahmen der Gesprächsreihe „Das Wort zum Samstag“ zur Diskussion stellen.

Text & Bild (Druckausgabe): Michael Flascha

Aktion Oberbilker Geschichte(n) e.V. (Hg.)
Düsseldorf-Oberbilk hat es in sich!
Eine Stadtteilgeschichte anhand ausgewählter Themen und Standorte
Edition Virgines 2024, geb., 208 S., 25,00 Euro
Das Buch lässt sich auch kostenlos als PDF-Datei herunterladen https://oberbilker-geschichten.de Wir empfehlen allerdings den Kauf der Printversion, nicht zuletzt wegen den zahlreichen und gut dokumentierten Fotos, die beim Durchblättern dazu einladen, neue Aspekte und neue Geschichten aufstöbern.


Veranstaltungsreihe zum 5.Todestag des Oberbilker Autors Dieter Forte

„Düsseldorf ist meine Heimat, die Straßen und Plätze eines bestimmten Quartiers mit seinen unverwechselbaren Menschen und ihren tausend und einen Geschichten, ein Bildteppich voll unerschöpfliche Erinnerungen“

„Es war eine vielsprachige, fremdartige, künstlich geschaffene neue Welt aus vielerlei Kulturen“

„Von außen wurde das als Chaos angesehen, als totale Anarchie, als gesetzesfreier Raum von innen, als eine gute menschliche Ordnung, die alle zusammen ließ.“

Das Heinrich-Heine-Institut widmet dem großen Dramatiker und Erzähler zu seinem fünften Todestag eine Veranstaltungsreihe.

Im Zentrum steht die Ausstellung „Dieter Fortes Lesewelten“, die noch bis zum 4. August nie zuvor gezeigte Archivalien aus Fortes Nachlass präsentiert. Dazu gibt es Führungen und literarische Spaziergänge durch Oberbilk – der Stadtteil hat in Fortes Romanen oft eine Hauptrolle. Hier spielt beispielsweise auch die Trilogie „Das Haus auf meinen Schultern“, unter anderem zur Zeit des Zweiten Weltkriegs.

Am Sonntag, 23. Juni und am Freitag, 19. Juli führt um jeweils 14 Uhr eine Tour durch den damals von der Schwerindustrie geprägten Stadtteil. Sie lässt das Werk Fortes lebendig werden und informiert über die Geschichte der Gegend rund um die Kölner Straße, der „Kö der Arbeiter“. Die Führung kostet 10 Euro, ermäßigt 5 Euro.

Den Schriftsteller und Menschen Dieter Forte möchten die aus Basel stammende Zeitzeugin und Freundin des Ehepaars Forte Vera Forester, Autor und Journalist Olaf Cless und Enno Stahl vom Heinrich-Heine-Institut dem Publikum näher bringen.

Beim Dieter-Forte-Abend am 5. Juni um 19 Uhr liest Cless repräsentative Stücke aus dem reichhaltigen Schaffen des Autors. Der Eintritt kostet 6 Euro, ermäßigt 4 Euro.