Die Kunst findet nicht im Saale statt (Teil II)
Anmerkungen zum Projekt

EINE STRASSE

„Wie sollen die Innenstädte der Zukunft aussehen? Welche Interes­sen werden dort vorrangig berücksichtigt?“ Dieses will das Projekt EINE STRASSE am Beispiel Graf-Adolf-Straße erkunden.

Für Daniel

Auf der Homepage „https://eine-strasse.de“ die Frage: „Wie können sich Quartiere als komplexe Stadträume entwickeln, die die Vielfältigkeit ihrer heterogenen Bewohner*innenschaft reflektieren, statt lediglich konsumorientierte Angebote zu liefern?“ Das Projekt frage „nach der Zukunft der Innenstadt als dem Zentrum einer solidarischen urbanen Gemeinschaft, als gelebtem Raum der Stadtgesellschaft.“ Die Problemlage der Graf-Adolf-Straße wird in einer Ankündigung wie folgt skizziert: „Verlust des homogenen Erscheinungsbildes wegen des autogerechten Umbaus in den 1960er Jahren, einseitige Ausrichtung auf den Konsum, zugleich leerstehende Ladenlokale sowie hohes Verkehrsaufkommen.“ In einem „interdisziplinären Dialog“ soll „auf die Suche nach der Innenstadt von Morgen“ gegangen werden. Installationen, Veranstaltungen, zum Teil haushohe Fotowände und manches mehr locken an. Künstler*innen, viele lokale Gruppen und Initiativen sind beteiligt – auch Fridays for Future, Extinction Rebellion und die Franzfreunde mit ihrer Arbeit mit Wohnungslosen. Das Programm des zweimonatigen Projekts findet sich unter https://eine-strasse.de/programm-2024.

TERZ-Leser*innen sind autonom genug, sich selbst ein Bild zu machen. Statt einer Rezension hier nur einige Anmerkungen und Fakten zur historischen und gesellschaftlichen Einordnung.

„Zwei bis drei Straßen“

Der Titel EINE STRASSE ist ganz offensichtlich inspiriert vom Projekt „Zwei bis drei Straßen“, das Jochen Gerz 2010 im Rahmen von „Europas Kulturhauptstadt Ruhr“ realisierte. Sarah Elsing beschrieb in der FAZ das Projekt. Über den Blick vom Balkon des Doppelhochhauses am Hans-Böckler-Platz 7/9 in Mühlheim an der Ruhr heißt es da: „Unten lag glitzernd die Stadt, links die Balkone des Nachbarhochhauses, rechts die Bahnlinie, der Blick ging diagonal zu den Schloten. Rot, gelb, grün wischte ihr Rauch in den Himmel. Der Horizont flirrte, als läge hinter Duisburg das Meer. Ein romantisches Panorama fast altmeisterlicher Perfektion.“ In den siebziger Jahren ein städtebauliches Prestigeprojekt „mit Schwimmbad, Sauna und Solarium“, wurde das Hochhaus „wenig später Asylheim“, sei „begleitet von zunehmendem baulichem Verfall zu einem Hort von Drogenmissbrauch und Kriminalität“ geworden. Bis ins Jahr 2010 sei „das zwanzigstöckige Hochhaus bekannt als ein Ort, an dem sich regelmäßig Verzweifelte in den Tod stürzen.“ Gerz hat dieses Hochhaus in Mühlheim, ein Objekt in Duisburg-Hochfeld und eins am Dortmunder Borsigplatz für sein Projekt ausgesucht. Alle drei liegen in sogenannten „Problemvierteln“. Der Künstler zu seinem Projekt: „Ich möchte, dass die Leute diese ,2-3 Straßen‘ mit der gleichen Aufmerksamkeit, mit der gleichen Intensität, mit der gleichen Geduld angucken, mit der sie Bilder von Caspar David Friedrich angucken.“ 78 Kreative aus acht Nationen erhielten Gelegenheit, in den drei Objekten ein Jahr mietfrei zu wohnen. Einzige Bedingung: sie sollten in einem übers Internet vernetzten online-Script ihre Erfahrungen und ihre Ideen für die Straßen niederschreiben. „Zu sehen gab es nicht viel, Spektakuläres schon gar nicht. Der soziale Prozess war das Kunstwerk“, unterstreicht Elsing. Gerz erläutert: „Die Menschen haben gelernt, Kunst anzugucken, jetzt müssen sie nur noch lernen, mit diesem Blick auch die Wirklichkeit anzugucken.“ Doch gucken allein reicht nicht. Die Menschen in den Straßen nur anzuglotzen, vermittelt wenig. Besuchende müssen wie „Mary Poppins“ ins „Bild“ eintauchen, mit den Menschen in Kontakt treten, mit ihnen reden. Die Rolle der „Mary Poppins“ übernahmen gemischte Gruppen von Alt-Einwohner*innen und den für ein Jahr Hinzugezogenen, die gemeinsam Führungen organisierten, und den Besucher*innengruppen schilderten, welche Projekte, Vernissagen und Nachbarschaftsktivitäten sich mit Einzug „der Neuen“ entwickelt haben. Einige der Alteingesessenen schrieben auch an dem kollektiven online-Skript mit. „Die Vorstellung, dass solche Aktionen Kunst sind, dass sozial ausgeschlossene Menschen Autoren sein können, es überhaupt auf ihr Wort ankommt“, sei nicht einfach zu vermitteln gewesen, schreibt Elsing. („Der gedrehte Blick“; FAZ 31.12.2010) Den Blick weg von der City, hin zu jenen Stadtteilen lenken, die sonst nur in die Schlagzeilen geraten, wenn sich wieder jemand zu Tode gestürzt hat oder eine andere Katastrophe passiert ist, war das Anliegen von „2-3 Straßen“.

„...oder wollen sie damit etwa zum Nachdenken anregen?“

Zeitsprung. Ortswechsel. 1984 erscheint der Bildband „Mit Vollgas in die Wände“ der Wandmalgruppe Düsseldorf. In ihm dokumentiert und reflektiert die Gruppe ihre 7 jährige Erfahrungen mit Kunst im Öffentlichen Raum. Geschrieben wurde er nicht allein von den vier aufgeführten Autoren, zu denen auch ich zählte. Jedes der zehn Mitglieder der Wandmalgruppe erhielt eine Kopie der Skripte. Die Skripte wurden gemeinsam diskutiert und von den vier Autoren mehrfach überarbeitet. Der Schriftsteller Georg Heinzen, der auch das Vorwort schrieb, las zudem zentrale Passagen gegen, gab Formulierungshilfen. Ein Prozess, der sich über Monate erstreckte. Im Kapitel „Erfahrungen mit öffentlich geförderten Wandbildern“ heißt es: „Nachdem 1978 polnische Maler mit öffentlicher Unterstützung Häuser der städtischen Wohnungsgesellschaft als Malfläche benutzen durften, wandten auch wir uns im folgenden Frühjahr an den Geschäftsführer der Gesellschaft, der uns darauf eine Liste von Wänden zuschickte, die – welch glücklicher Zufall – ohnehin renovierungsbedürftig waren. Für eine an einer Schnellstraße gelegenen Wand hatten wir ein überdimensionales Ohr als anatomisches Detail des o(h)rwellschen „großen Bruder“ entwickelt. Doch obwohl wir einen Entwurf gewählt hatten, der verschiedene Interpretationen zuließ, gab es Bedenken: „Soll das nun etwas Dekoratives sein, oder wollen Sie damit etwa zum Nachdenken anregen?“ fragte ein Bezirksvertreter bei der Vorstellung der Entwürfe. Assoziationen zu den damaligen Abhörskandalen um Traube [Klaus Traube: Spitzenmanager der Kernenergie-Industrie, später ihr entschiedenster Gegner und Symbolfigur der Anti-AKW-Bewegung] und [Günter] Wallraff drängten sich auf.

Die Mieter waren im Gegensatz zu den skeptischen Entscheidungsträgern interessiert und sprachen sich spontan für die Realisierung aus, vor allem, weil sie auch schnell eine eigene Interpretation für das Ohr fanden: „Wir Mieter lassen uns von der Stadt nicht mehr übers Ohr hauen!“ Sie versprachen sich auch von der Bemalung etwas mehr Aufmerksamkeit für ihre Umgebung. Während der Arbeit an der Wand versorgten sie die Malergruppe mit Kaffee und Kuchen, luden sie auch zu sich ein. Im Hinterhof entwickelten wir mit den Mietern ein kleines Wandbild, das die Mieter auch bezahlten – vor allem in Naturalien.

Auch für die dem großen Wandbild gegenüberliegende Wand hatten die Mieter schon eine Idee: nach dem Ohr sollten die Autofahrer auf ein ebenso großes Auge zufahren. Als wir den Entwurf im folgenden Frühjahr bei der städtischen Wohnungsgesellschaft einreichten, teilte uns ein Vertreter der Gesellschaft telefonisch mit, er habe uns im Auftrage des Vorstandes noch einmal ganz deutlich darauf hinzuweisen, dass auf städtische Hauswände nichts Politisches gehöre.

Der Entwurf wurde abgelehnt. Auf einem von uns organisierten Treffen im Hinterhof sprachen sich die Mieter für die Realisierung aus. Auch die Presse war anwesend. Als am folgenden Tag die Düsseldorfer Tageszeitungen über das Votum der Mieter berichteten, fragte uns die Wohnungsgesellschaft nur noch, wann wir mit der Arbeit anfangen wollten.

Die Bilder kamen der Stadt besonders billig: Die Wohnungsgesellschaft bezahlte lediglich das Gerüst. Das Kulturamt gewährte für das Ohr 2000 DM, die gerade die Kosten für die Farben, Grundierung, Pinsel usw. deckten. Der Verein der Freunde und Förderer der Akademie gab 1000 DM [fünf der Gruppenmitglieder waren noch an der Akademie eingeschrieben]. Ein Jahr später gewährte das Kulturamt für das Auge 5000 DM, so daß diesmal für die Maler sogar ein Stundenlohn von 4,75 DM übrig blieb. Ein einfarbiger Fassadenanstrich, ausgeführt von einer Malerfirma, hätte für eine der Wandflächen schon 3.780 DM gekostet.“

In Unterbilk, wo sich mehrere kleinere Ini­tiativen zur Bürgerinitiative „Rettet Bilk!“ zusammengeschlossen hatten, wurde über Jahre zum Schwerpunkt der Aktivitäten der Gruppe. In dem Bildband heißt es: „Seit 1978 wurden in Zusammenarbeit mit verschiedenen Initiativen Wandbilder direkt auf Spekulationsobjekte in Bilk gemalt. Die Häuserbemalungen fanden im Rahmen einer Reihe von Aktionen statt, die die Anwohner auf die Machenschaften der Spekulanten aufmerksam machen sollten.“ Im Bildband wird ein Mitglied von „Rettet Bilk“ zitiert: „­… da find ich so’n Mittel, sich hinzustellen und ein paar Bilder, die auch noch ’was aussagen, an die Wand zu malen, ganz prima! Weil damit ’was klar gemacht werden kann, z. B. das Sanierungsproblem: da werden Häuser abgerissen, Leute ’rausgeschmissen. Und das kann man auf solche Häuser, die schon Spekulanten zum Opfer gefallen sind, malen, die Häuserwände dazu benutzen, um unseren Forderungen nach sicheren, billigen Mieten Ausdruck zu geben. - Davor, dass etwas bekannt wird, davor, dass sich bei der Bevölkerung ’was rührt, dass ’ne Bevölkerung aktiv wird sogar, davor haben sie Angst! - und warum haben sie Angst davor? - weil dabei herauskommen könnte, dat man ihnen auf die Finger guckt und sie nicht mehr so viel absahnieren können – und deshalb gehen sie hin und machen die Bilder wieder kaputt – nicht, weil ihnen das Bild nicht gefällt oder sie der Eigentümer sind und die Genehmigung nicht erteilt haben. So’n Bild hat ’ne politische Aussage und ’ne politische Stellung und das stört eben die, die profitieren wollen.“

Über die Schwierigkeiten bei der Realisierung eines Bildes, das ein monumentales „Stadtteilmonopoly“ zeigt, an einer giebelhohen Wand, heißt es im Text: „Obwohl sich bisher in Düsseldorf noch nie so viele Anwohner für ein Wandmalprojekt interessiert hatten, bekamen wir keinerlei Unterstützung durch die Stadt. Auf Anfrage wollte die Städtische Wohnungsgesellschaft sich zwar in Bilk nach geeigneten Wänden umsehen, ihr Interesse ließ aber sehr nach, als sie erfuhr, dass das Bild zusammen mit der Bürgerinitiative „Rettet Bilk“ entwickelt werden sollte. Das Kulturamt bewilligte – die Wandmalgruppe hatte einen Antrag eingereicht – nicht einen Pfennig für das Projekt. Ein Ratsherr der CDU-Fraktion war vielmehr an der Frage interessiert, wie man derartige Aktionen in Zukunft unterbinden könne.

Das Bild konnte nur durch die solidarische Unterstützung der Bilker verwirklicht werden. Es fand sich ein Hausbesitzer, der eine 21 m hohe Giebelwand zur Verfügung stellte, weil er selber mit der Sanierungspolitik nicht einverstanden war. In der Lokalpresse und auf Flugblättern wurde zur Mitarbeit und zu Spenden aufgerufen, um die 4.500 DM Materialkosten zu decken.

Vor der Wand sammelten Vertreter der Bürgerinitiative Stellungnahmen zum Bild und informierten mit Flugblättern über die Aktion. [...]

Die Einweihung des Bildes war ein Stadtteilereignis. Mit den Bilker Bürgern wurde ein großes Fest vor der Wand gefeiert, wobei sich von den Politikern niemand blicken ließ.“

Die City als „Zentrum einer solidarischen urbanen Gemeinschaft“?

Das Projekt EINE STRASSE hat die Messlatte hoch gehängt. Das „Thema Heimat“ solle einen besonderen Schwerpunkt bilden. Neue Erfahrungen und neue Communities beförderten aktuell, so lesen wir in der Programmzeitung, „eine Transformation des Begriffs in Richtung einer Welt, die als geteiltes Zuhause aller begriffen wird.“ Die Graf-Adolf-Straße wird mit vielem assoziiert, nur in eher seltenen Fällen mit „Heimat“, mit „Kiez“ oder „Veedel“, wie es in Kölle heißt. Wer auf die Graf-Adolf-Straße zieht bzw. dort wohnen bleibt, schätzt die Nähe zum reichhaltigen innerstädtischen Kulturangebot. Was unmittelbar vor der Haustür liegt, interessiert oft wenig. „Heimat“ und Nestwärme suchen dort viele eher in persönlichen Beziehungen und bei Freund*innen. In der Programmzeitung wird hingegen das alte Modell imaginiert: die City, der Marktplatz als Lebensmittelpunkt, so wie in Heinrich Manns Roman „Die kleine Stadt“(1909), für den das italienische Städtchen Palestrina, wo die Manns ihre Sommerurlaube verbrachten, als Modell diente.

Das Projekt EINE STRASSE findet wohl nicht ganz zufällig auf der Graf-Adolf- und nicht auf der Eller- oder Kölner Straße oder in Garath statt. An den Trickle-down-Effekt dürften wohl nur die wenigsten glauben: dass auf das EINE-STRASSE-Projekt in der City bald eins in den Suburbs folgt. Stadtteile wie Garath bleiben weiterhin kulturell und sozial unterversorgt. Auf die Schreckensjahre mit Kaviar und bei Kohl waren die von Gerhard Schröder (Hartz I-IV) gefolgt, was eine verschärfte Ausgrenzung zur Folge hatte. Georg Heinzen schrieb vor 40 Jahren im Vorwort zu „Mit Vollgas in die Wende“: „Und selbst da, wo die Herrschenden uns mitmachen lassen, hat das keinen anderen Sinn, als feste Rollen einzuüben. Der Auftritt des nervösen Publikumskandidaten verschafft der autoritären Mechanik der TV-Shows erst ihre Legitimation.“ Ist so auch die Einladung an Fridays for Future und Extinction Rebellion zum EINE-STRASSE-Projekt zu verstehen? Nur ein Alibi wie die bunt bemalten Fassaden in der Kiefernstraße oder das „Café Grenzenlos“ in Unterbilk? Das „Grenzenlos“ dient in Wahlkämpfen stets als Kulisse, vor der sich Politiker*innen und NRW-Minister*innen ablichten lassen, die Kiefernstraße wurde zum Highlight bei Stadtrundfahrten. So wird Touris demonstriert, wie weltoffen, bunt und multikulti Düssi ist. An eine flächendeckende Versorgung mit Kunst oder verbilligten Mittagstischen á la „Café Grenzenlos“ war nie gedacht. Ist es verwunderlich, wenn in jenen über Jahrzehnten vernachlässigten Stadtteilen, mit denen die meisten Ratsherr*innen nichts zu tun haben wollen, die Menschen Parteien wählen, mit denen wiederum wir nichts zu tun haben wollen?

Im Bildband von 1984 zog die Wandmalgruppe das Resümee: Die Chance von Kunst, „der kulturellen Entmündigung durch die Massenmedien entgegenzutreten und eine Kultur von unten zu schaffen, wurde kaum diskutiert und fand offiziell nur wenig Unterstützung. [...] So müssen diejenigen, die sich nicht mit dem bürgerlichen Kulturangebot identifizieren wollen, ständig um den Erhalt und den Ausbau ihrer eigenen Kultur kämpfen.“

Thomas Giese

Zitate aus: Thomas Giese, Klaus Klinger, Willi Oesterling, Gerd Trostmann: „Mit Vollgas in die Wände – Wandbilder, Objekte, Figuren, Masken der Wandmalgruppe Düsseldorf“; Frankfurt a. M. 1984.