Das ist Gesellschaft

Soziale Fotografie in Düsseldorf

Fotografien mit dem Schwerpunkt Düsseldorf von 1945 bis zur Gegenwart im Stadtmuseum

Ein Junge vor einer Schaufensterscheibe. Lachend sieht er auf die bunte Warenwelt: Puppen, Plüsch-Tiger, Blechspielzeug. Die sich im Schaufenster spiegelnden Kinder und Erwachsenen gehen fast unter zwischen all den hübschen Spielsachen.

An anderer Stelle hängt ein Großabzug von der Decke, darauf ein frierender Junge im Schneematsch vor einer Litfasssäule mit „Söhnlein“-Reklame. Darunter die vom Fotografen hinzugefügten Zeilen: „Kurz vor Weihnachten ist es ziemlich kalt geworden. Peters Kleider haben sich im Schnee und Matsch nass gesogen. Er kann nicht nach Hause, weil Vater und Mutter arbeiten.“ Tagesheime seien zu spärlich gesät, so dass sich viele Kinder tagsüber auf der Straße herumtreiben müssten. Sarkastisch heißt es am Ende: „Das Wirtschaftswunder kostet. Schlüsselkinder, denen man Schlüssel zu leeren Wohnungen, Eisschränke statt Kinderheime gab.“

Beide Fotografien sind Ende der 1950er Jahre entstanden, beide sind von Dirk Alvermann. Dessen Fotos und Schnappschüsse begegnen uns immer wieder in der Ausstellung. Der in Düsseldorf Geborene (ein jüngerer Bruder des Assemblage-Künstlers Hans-Peter Alvermann) hatte mit 18 die Schule geschmissen, bald auch die Lehre zum Elektromechaniker. Auf seinen Streifzügen durch Düsseldorf war dann immer die Leica M3 dabei. Bereits 1958 stellte er auf der photokina in Köln aus, verliebte sich bald in ein Mädchen aus Ostberlin, ging 1968 „nach drüben“, arbeitete in der Dokumentarfilmabteilung des DDR-Fernsehens, bis er auch dort geschasst wurde. In Folge verdingte er sich in einer LPG und schrieb Kinderbücher.

Das Gejammer über die DDR-Zensur ging ihm mächtig auf den Zeiger. „Ich kann die ganzen Dissis nicht leiden, wie sie alle so schrecklich unterdrückt wurden“, empörte er sich 2012 in der Süddeutschen Zeitung. „Rowohlt und Steidl sagen doch auch, das Buch hier mach ich nicht und fertig.“ Er wusste, wovon er sprach. Der Rowohlt Verlag hatte 1958 kurz vor Drucklegung seines Fotobuchs „Algerien – L‘Algerie“ einen Rückzieher gemacht (damals tobte der französische Kolonialkrieg in Algerien) und weigerte sich, das Buch zu verlegen – so wie ein Jahr später auch sein Fotobuch „Keine Experimente – Bilder zu Artikeln des Grundgesetzes“. Beide Bücher erschienen in der DDR.

Doch solche biografischen Notizen zu den ausstellenden Foto-Künstler*innen und -Reporter*innen finden wir im Stadtmuseum nicht. Bewusst stehen hier ausschließlich das Dargestellte und die Abgebildeten im Fokus.

Leben, mit Fotos erzählt

Abbildungen von Menschen werden bewusst ins Zentrum gerückt. In einer Vitrine finden wir Szenen aus dem Leben von Abdeliz Tachrifest und Fadla Boubar aus Marokko ausschließlich mit Fotos dokumentiert. Dort liegt auch die am 14. September 1973 von der „Auswahlgruppe der Bundesanstalt für Arbeit in Marokko“ in Casablanca ausgestellte Legitimationskarte (versehen mit dem Stempel: „Gilt nur in Verbindung mit dem Reisepass“) für Herrn Tachrifest aus, daneben in arabischer Schrift die mit einem Passbild versehene Ausweiskarte seiner Frau. Ein Foto zeigt Fadla in einem ihrer Hochzeitskleider, ein weiteres bildet sie mit ihrem Erstgeborenen auf dem Arm ab. Daneben ein analoges Bild vom Vater mit dem Baby. Ein weiteres zeigt Herrn Tachrifest mit einem Freund; ein anderes ihn vor dem Atomium in Brüssel. Statussymbole rücken in den Bildfokus: Er mit seiner Frau vor einem Fernseher hockend; er mit Kind auf dem Arm vor seinem Mofa. Die Fotos wurden teils im Fotostudio, teils privat aufgenommen. Sie lassen auch darüber reflektieren, dass fotografische Aufnahmen – egal welcher Art – stets von Bildkonventionen mitbestimmt werden. Fotostudio-Aufnahmen sehen eben aus, wie im Fotostudio entstandene Aufnahmen aussehen, Privatfotos wie Privatfotos.

An einer Stelle wird bewusst mit unserer Erwartungshaltung gespielt, wobei jedoch eine genauere Beschreibung fehlt. Wenn mich nicht die TERZ-Redakteurin, mit der ich die Ausstellung besuchte, darauf aufmerksam gemacht hätte, hätte ich es glatt übersehen: Ein „Tagebuch“ mit vielen Fotos aus den 1940er Jahren. Die Fotos sind aus Alben der Eltern des Künstlers. Doch er hat diese Fotos mit Auszügen aus dem Tagebuch von Joseph Goebbels kombiniert. Nettes Privatgeplauder. Dass sogar KZ-Aufseher*innen im Anschluss an ihr Massenmordtagewerk zu Hause das harmonische Familienleben führten, will so gar nicht zu dem Bild, das wir von diesen Massenmörder*innen haben, passen.

Wie entsteht ein Foto?

In der Ausstellung sind Wandtexte jeweils auch in einfacher Sprache wiedergegeben, und dies ist oft prägnanter als die Begriffshuberei und bemüht poetisch-verklausulierte und hochgestochene Ausdrucksweise in so genannter „normaler Sprache“. Zu „Wie entsteht ein Foto?“ heißt es z.B.: „Wir haben das Gefühl, Fotos zeigen die Wahrheit.“ Aber: „Von vielen wird nur eins ausgewählt. Die Fotografin oder der Fotograf trifft eine Entscheidung. Wir wissen nicht, was für andere Fotos wir verpassen.“

Fotos halten eben stets nur jenen Bruchteil einer Sekunde fest, in der auf den Auslöser gedrückt wird. Viele sind inszeniert, Gruppenporträts und „Mannschaftsfotos“ sowieso. Drei Videoclips von Juliane Herrmann verdeutlichen dies. Eine Fußballmannschaft, eine Burschenschaft und die Tischbaase der Düsseldorfer Jonges bringen sich jeweils für ein Gruppenbild in Position. Die Fußballer zuppeln hier und da an ihren Trikots rum, die Burschenschafter witzeln schräg, die Baase achten dezent, doch nicht weniger entschieden darauf, dass die interne Rangordnung in der Aufstellung korrekt abgebildet wird. Wir hören jeweils das Klicken des Auslösers. Danach lösen sich die Gruppen wieder auf.

Die Bandbreite dessen, was zu sehen ist, ist enorm. Ein Blick in einen Supermarkt mit bis unter die Decke gestapelten Waschmittelkartons, kleine Geschäfte und Handwerksbetriebe in Düsseldorf-Bilk; noch mit Pferden betriebene Feldarbeit nach 1945. Kontrastierend dazu die Aufbahrung des Großindustriellen Alfred Krupp von Bohlen-Halbach 1967 in der Villa Hügel. Das Büfett beim 70. Geburtstag von Dr. Wilhelm Zangen, Aufsichtsratsvorsitzender der Mannesmann Röhrenwerke AG. Ein Blick in den Investor Club – im Hintergrund Börsennotierungen und Aktienkurse. In einer anderen Koje Kriegsversehrte vor dem Hauptbahnhof, ein Mann mit Hungerödemen 1946 in einem Düsseldorfer Krankenhaus. Exhumierung von Gestapo-Opfern 1945 im Kölner Gefängnis Klingelpütz.

An der gegenüberliegenden Wand Proteste gegen eine Werksschließung und gegen den §218, eine Demonstration gegen die Stationierung von US-Atomraketen. Fotos aus Frauenhäusern. Ein Kiefernstraßenfest, ein Soli-Fest in einem Hinterhof fürs Sägewerk. Tagebaubesetzung in Garzweiler. Ich kann hier nur die Bandbreite dessen, was zu sehen ist, skizzieren, die Vielfalt ist wirklich enorm.

Themenblöcke

Ein Block widmet sich dem Thema „Geflüchtete“: Ankunft von Vertriebenen in einem Flüchtlingslager 1947; „Exodus“-Geflüchtete in einem Camp für displaced persons; die von Abschiebung bedrohte Familie Idic; die Flüchtlingsunterkunft in der Messehalle 8a, Düsseldorf 2015.

Dann das Thema Religionen. Eine Zusammenkunft der Jüdischen Gemeinde in einem nach dem Krieg im Landgericht eingerichteten Gebetsraum. Evangelische Jugend auf dem Weg zum Kirchentag 1946. Muslimische Mädchen im Koran lesend. Schreine der Märtyrer aus Kölner Kirchen beim Dombaufest, im Hintergrund ist der Wiederaufbau einer der Rheinbrücken zu sehen.

Aufnahmen aus Industriebetrieben sind selten. Hintergrund: Dazu ist die Genehmigung der Werksleitung nötig. Bis 1933 finden wir so gut wie keine. Nach Zerschlagung der Gewerkschaften und nach der Umwandlung der Arbeiter*innenschaft in „Gefolgschaft“ unter dem Nazi-Regime ließen Industriebosse gerne Fotografen in die Betriebe. Diese Propagandafotos werden im Stadtmuseum zum Glück nicht gezeigt. Nach 1945 sind Aufnahmen aus Betrieben eher selten und meist geschönt. Allerdings findet sich ein zwischen 1914 und 1918 aufgenommenes Foto. Darunter fett die Bildunterschrift: „Rheinmetall Düsseldorf. Blinde bei der Revisionsarbeit“. Der Rüstungsbetrieb spielte für Düsseldorf eine große Rolle. 1889 hatte sich die „Rheinische Metallwaren- und Maschinenfabrik“, wie Rheinmetall zunächst hieß, gegründet. Es folgte ein Großauftrag zur Produktion des Mantelgeschosses M 88 für das preußische Heer. 1898 baute Rheinmetall das erste Rohrrücklaufgeschoss der Welt. Es wird zunächst ins Ausland, dann ans deutsche Heer verkauft. 1901 gab es Rheinmetall-Werke bereits in Derendorf, Rath, Reisholz, Sommerda, Eisenach, Zella und einen Schießstand in Unterlüß. Bis 1914 gingen Rüstungsexporte in zwölf europäische Länder und in die USA. Im Ersten Weltkrieg war Rheinmetall neben Krupp „das bedeutendste Werk Deutschlands, das die Front mit Kriegslieferungen jeder Art versorgte“, hieß es in den Hausmitteilungen von 1937. 1986 geriet der Konzern mal wieder unschön in die Schlagzeilen. BILD-Headline: „Staatsanwalt klagt vier Rheinmetall-Manager an: Maschinen-Gewehre an Scheichs, Geschütze für den Falkland-Krieg“. Wie eng für ein Stadtmuseum der Spielraum dessen ist, was dort gezeigt und was in Katalogen gedruckt werden darf, konnten wir 1981 erleben. Bei der Pressekonferenz zur Ausstellung „Aspekte Düsseldorfer Industrie“ nahmen die Vertreter*innen der Waffenschmiede sämtliche Kataloge mit, rissen den Beitrag über Rheinmetall raus und brachten die zensierten Exemplare am Folgetag wieder zurück. Stein des Anstoßes: Ein Foto von 1940, das Rheinmetallarbeiter vor einem Hitlerbild und zwei Hakenkreuzfahnen zeigt. Im Text heißt es: „Es entspricht althergebrachter Übung, dass jeder Jubilar aus Anlaß seiner mindestens fünfundzwanzigjährigen Betriebstreue neben einer Ehrenurkunde und einem bezahlten Sonderurlaub von zehn Tagen sowie einen Zuschuß für eine KDF-Fahrt ein Geldgeschenk erhält.“ Der damalige Kulturdezernent verteidigte die Zensurmaßnahme: Das Abbilden nationalsozialistischer Symbole sei verboten. Derzeit beliefert der Konzern mehrere europäische Staaten und „internationale NATO-Kunden“, zieht aktuell auch eine Produktionsstätte in der Ukraine hoch.

Das Thema Armut/Obdachlosigkeit nimmt in der Ausstellung einen großen Raum ein. 1948 ein Mann in der Mülltonne wühlend. Eine „Tafel“ in Ratingen, fifty-fifty-Verkäufer. Porträts von Wohnungslosen. Hier lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Denn nicht alles ist hier Dokumentarfotografie. Manche Bilder wollen bewusst provozieren, indem sie die Bilder, die wir von „Obdachlosen“ im Kopf tragen, hinterfragen.

Die Ausstellung ist unbedingt empfehlenswert. Denn das ungeschminkte Bild, das hier von Gesellschaft gezeichnet wird, will nur wenig zu dem Bild, das uns via Medien eingetrichtert wird, passen. Öffentlich-rechtliche Medien, die bewusst keine Staatsmedien sondern beitragsfinanzierte sind, sollten hier ein Gegengewicht bilden. Doch allzu oft sind sie allzu politik-hörig. Das Publizieren unter kapitalistischen Produktionsbedingungen leide, so stellte Heinrich Heine bereits 1840 in einem Artikel für die Augsburger Allgemeine fest, an einer „besonderen Art von Unfreiheit“, die vielleicht verderblicher sei als Zensur unter preußischen Bedingungen. In Frankreich seien es nämlich „gewöhnlich Kapitalisten oder sonstige Industrielle, die das Geld herschießen zur Stiftung eines Journals.“ Dadurch gerieten „die Journale in eine beschränkende Abhängigkeit.“ Der „Redakteur en chef“ führe in kapitalistischen Staaten ein Kommando wie ein Bandenführer. Es herrsche die strengste Disziplin des Gedankens und sogar des Ausdrucks: Habe irgendein unachtsamer Mitarbeiter das Kommando überhört, habe er nicht ganz so geschrieben, wie die Anweisung laute, „so schneidet der Redakteur en chef ins Fleisch seines Aufsatzes mit einer militärischen Unbarmherzigkeit, wie sie bei keinem deutschen Zensor zu finden wäre.“ Heute ist es insbesondere die Angst vor dem Verlust von Anzeigenkund*innen, die diktiert, was geschrieben und gesendet wird.

Thomas Giese

„Das ist Gesellschaft“ ist noch bis zum 15.1.2025 im Stadtmuseum zu sehen.