„Hier kommt Alex“

Die Toten Hosen wurden am 30. Oktober mit dem Staatspreis NRW ausgezeichnet, im Frühjahr war Andreas Frege bereits mit der Heine-Gastprofessur (WAZ: „Prof. Punk“) beehrt worden. 1988 war „Hier kommt Alex“ der Chartbreaker. Vor 30 Jahren erschien dann „The Return of Alex.“ Grund genug mal wieder in die Romanvorlage zu gucken, der arte im vergangenen Jahr die 55-minütige Doku „Clockwork Orange: Im Räderwerk der Gewalt“ widmete (weiterhin im Netz abrufbar).

Mit keinem Song werden „Die Toten Hosen“ so identifiziert wie mit „Hier kommt Alex“. Fans können die Verse auswendig: „Jeder Mensch lebt wie ein Uhrwerk,/ wie ein Computer programmiert./ Es gibt keinen, der sich dagegen wehrt,/ nur ein paar Jugendliche sind frustriert.“ Die fünfte Strophe spitzt zu: „Auf dem Kreuzzug gegen die Ordnung/ und die scheinbar heile Welt/ zelebrieren sie die Zerstörung,/ Gewalt und Brutalität.“ Doch „wehren“ tun sich diese Jugendlichen auch nicht, sie sind nur „frustriert“, geben die Gewalt, die sie erfahren bzw. erlitten haben, schlicht nach unten weiter: „Erst wenn sie ihre Opfer leiden sehn,/ spüren sie Befriedigung./ Es gibt nichts mehr, was sie jetzt aufhält/ in ihrer gnadenlosen Wut.“ Der Song war eine Auftragsarbeit, Teil der Bühnenmusik für Bernd Schadewalds „Clockwork Orange“-Inszenierung an den Kammerspielen Bad Godesberg. Eine Singleauskopplung war nicht geplant. Zu langsam, zu rockig, zu wenig Punk. Der einstige Schlagzeuger und damalige Bandmanager Trini Trimpop hatte den richtigen Riecher und setzte die Single 1988 durch. Es wurde zu d e m Tote-Hosen Song. Laut Hosen-Homepage ist das Konzeptalbum „Ein kleines bisschen Horrorschau“ das „erfolgreichste Album in der Bandgeschichte.“ Auch finanziell war es der Durchbruch. Die englische Version „The Return of Alex“ (Text: Campino und Matt Dangerfield) erschien dann 1994 auf dem Album „Love, Peace & Money“.

Hide the violence

Weltruhm erlangte „Clockwork Orange“ durch Kubricks Film, von dem Anthony Burgess, Autor der Romanvorlage, wenig begeistert war. Zu sehr stünde die Gewalt im Fokus. Dass er etwas anderes im Sinn hatte, stellte der 1917 in Manchester Geborene 1972 in einem Interview klar: „I’d gone to great trouble in the book to hide the violence and the sexuality from the reader by using a very strange language. So the reader had to fight his way through the language to get at the juice or to get on the physical reality.“ Die Vorwürfe, sein Buch produziere Nachahmungstäter, bezeichnete Burgess als abstrus und lächerlich: „Wenn das wirklich so wäre, wäre es unmöglich, Hamlet aufzuführen, aus Furcht, dass jugendliche Zuschauer ihre eigenen Onkel töten könnten.“ Auf der Leinwand sei Alex „with his career“ dagegen in überdimensionalem Format zu sehen. Malcolm McDowell, der im Film den Alex gibt, unterstrich, wie schwierig es für ihn gewesen sei, einen abstrakten Begriff zu verkörpern: Wie kann „The Evil“, also das Böse schlechthin, zur Bühnenfigur werden? Der Tote-Hosen-Song trifft es da wirklich besser. Wenn Campino das „Hier kommt Alex“ kräht, bleibt es offen, ob er in diesem Moment on stage die Figur Alex tatsächlich verkörpert oder diese nur besingt:

Hey, hier kommt Alex!
Vorhang auf – für seine Horrorshow.
Hey, hier kommt Alex!
Vorhang auf – für ein kleines bisschen Horrorshow.

Das Identifikationsangebot, das ein Frontman in Pop wie Punk stets verkörpert, wird hier konterkariert. Denn Frege, alias Campino, distanziert sich ja in den Versen von der „gnadenlosen Wut“, die er so lauthals herausschreit. Im Refrain mag es zwar erscheinen, als sei Campino mit „Alex“ identisch. Er agitiert auf der Bühne auch tatsächlich so. Aber in den Versen selbst erzählt er von Alex und seinen Droogs in der dritten Person: Sie „gehn gemeinsam auf die Jagd“, sie „zelebrieren die Zerstörung“, nichts halte „sie“ jetzt mehr auf „in ihrer gnadenlosen Wut.“ In der arte-Doku „The Clockwork Orange/Im Räderwerk der Gewalt“ (F 2023) erläutert Campino: „In uns allen steckt etwas Schlechtes. Vielleicht auch etwas Gutes und Schönes. Und immer stellt sich die Frage, welcher Teil von Dir wird die Führung übernehmen.“ Und: „Vielleicht erkennen wir uns deshalb in Alex wieder, weil wir alle wissen, dass wir etwas Schlechtes in uns haben.“ Also mehrfache Brechung, analog zur Brechung, die Burgess in seinen Roman hineinschreiben wollte und hineingeschrieben hat. Die Band hatte hier also ein glücklicheres Händchen als Kubrick. Chapeau!

Heine-Professur für Burgess!

Im Interview mit Professor Süß (auf der homepage der HHU als podcast eingestellt) outete sich Campino als nur eingeschränkt kompetent für die Heine-Gastprofessur: „Was Sprache angeht oder auch bei der zweiten Vorlesung das Thema KI, da sitzen an der Universität die ganzen Cracks, die in der Analyse viel schärfer sind und fundierter, als ich das je sein könnte.“ In der Analyse schärfer war sicherlich auch Anthony Burgess. In zahlreichen Interviews und den im Nachlass gefundenen Fragmenten zu „The Clockwork Condition“ hat er sich zur Literatur im Allgemeinen und insbesondere zu „Clockwork Orange“ geäußert. Der 1993 gestorbene Autor wäre in der Tat ein würdiger Heine-Gastprofessor gewesen. Das Skript zu „The Clockwork Condition“ liest sich passagenweise wie die Mitschrift einer Hochschulvorlesung. Eingangs betont Burgess, „Romancier“ sei ein harmloser Beruf, obwohl dieser nicht allerorten als ein respektabler angesehen würde. Romanautoren legten „dirty language“ in den Mund ihrer Charaktere, lassen diese zuweilen widerwärtige Dinge tun. Romane schreiben sei nicht einmal eine nützlichen Tätigkeit, wie die eines Zimmermanns oder eines Konditors. Ein Romancier helfe lediglich dabei, die Zeit zu vertreiben: „He helps to fill the gaps that appear in the serious fabric of living.“ Ein Romancier sei im Grunde ein Entertainer, eine Art Clown, mal pathetisch, mal komisch und manchmal beides zugleich. Er werfe changierende Wörter in die Luft wie bunte Bälle. Was er aber wirklich denkt, sei schwierig herauszufinden, da er sich hinter seinem Szenenspiel und seinen Charakteren verberge. Und wenn seine Charaktere zu denken beginnen, stimmen ihre Gedanken nicht unbedingt mit den Ansichten des Autors überein. Selbst ein Tragödiendichter wie Shakespeare bliebe ein Clown, blase oft eine traurige Melodie auf einer zerbeulten Posaune. Aber bald ist seine trübe Stimmung vorbei und er wird zum Spaßmacher, taumele einher und geht auf seinen Händen. Nicht wirklich ernst zu nehmen!

Alex DeLarge & Novel Writing

Burgess selbst bezeichnete „The Clockwork Condition“ als „a major philosophical statement on the contemporary human condition.“ Die TERZ ist jedoch kein Ort für den Abdruck eines Vorlesungstextes. Deshalb hier nur einige Essentials: Schlüsselszene des Romans ist, wie Alex und seine Droogs in das Haus des Schriftstellers und dessen Frau eindringen. Vor Schriftstellern habe Alex stets hohen Respekt gehabt, heißt es im Roman. Neugierig blättert Alex in dem auf dem Schreibtisch zuoberst liegenden Skript, Titel: „The Clockwork Orange.“ Er liest die ersten Zeilen. Welch hochgestochenes Geschwafel, purer bildungsbürgerlicher Scheiß: „The attempt to impose upon man, a creature of growth and capable of sweetness, to ooze juicily at the last round the bearded lips of God, to attempt to impose, I say, laws and conditions appropriate to a mechanical creation, against this I raise my sword-pen.” Wutentbrannt zerreißt Alex das Skript. Burgess teilt mit Alex dessen Wut. Klugscheißerei von Intellektuellen ging auch ihm mächtig auf den Sack. Doch überlässt er sich nicht der Wut, sondern schreibt über diese, analysiert sie. Er schreibt sein eigenes „Clockwork Orange“ und zwar in einer deftigen vulgären Sprache, einen Roman, der Alex – wäre er eine reale Person und nicht nur Romanfigur – sicherlich gefallen haben dürfte. (Burgess lässt seinen Roman von Alex aus der Ich-Perspektive erzählen)

Der Roman sei „out of bitter autobiographical experience“ geschrieben, betont Burgess. 1942, als er in Gibraltar bei der Royal Army stationiert war, wurde seine Frau in London von drei desertierten US-GI’s ausgeraubt und vergewaltigt. Als Folge der Vergewaltigung verlor sie das gemeinsame Kind, mit dem sie schwanger war.

Nicht viel hätte gefehlt und aus Burgess wäre ein zweiter „Jack the Ripper“ geworden. In der Zeitung hätte dann gestanden: „Der in Harpurhey, einem Stadtteil von Manchester, aufgewachsene Anthonny Burgess gestand, dass er für die Morde an mehreren GI’s verantwortlich ist. Sein Motiv: Rache.“ Das proletarische Milieu, aus dem Burgess kam, hätte gut gepasst. 2007 war Harpurhey in den Manchester Evening News als „the worst place in England“ bezeichnet worden. Burgess ist der Überzeugung, kein Mensch sei ausschließlich Opfer der Verhältnisse. Der einzelne Mensch stehe stets vor der Entscheidung zwischen „Good“ and „Evil“. Burgess entschied sich bewusst gegen einen Rachefeldzug gegen GI’s. Und hatten im II. Weltkrieg nicht auch Deutsche und Russen vergewaltigt? Er schreibt deshalb einen Roman gegen Gewalt als solche. „Nasdat“, der Slang, den Alex und seine Droogs sprechen, ist ein Gemisch aus Amerikanischem und Russischem. Doch das hat einen anderen Hintergrund. Äußerer Anlass für das Schreiben von „Clockwork Orange“ war die Diskussion über Jugendkriminalität Mitte der 1950er Jahre. „Teddy-Boy-Gangs“ terrorisierten im Königreich die Straßen. Bei einem Aufenthalt in Leningrad war Burgess dort auf nicht weniger brutale Jugendgangs gestoßen.

Der Pawlowsche Hund

In Großbritannien machten damals Thesen des US-amerikanischen Behavouristen B. F. Skinner Schlagzeilen. An die Forschungen von Iwan Petrowitsch Pawlow anknüpfend, propagierte Skinner, jugendliche Straftäter müssten durch Aversionstherapie behandelt und „kuriert“ werden. Nicht Bestrafung, vielmehr positive Konditionierung sei hier das Allheilmittel. Burgess sarkastisch: „You teach a circus animal tricks not by cruelty but by kindness.“ Wenn ein Mensch wie ein Pawlowscher Hund, wie ein Uhrwerk „funktioniert“, sei er kein Mensch mehr, protestierte Burgess. Und: Wie will eine Gesellschaft, die auf Gewaltstrukturen aufgebaut ist, Menschen zu was „Gutem“ konditionieren? Was definiert eine von Gewalt dominierte Gesellschaft als „das Gute“? In Kubricks Film sehen wir eingangs Alex and his Droogs auf einen wehrlosen Obdachlosen einprügeln. Am Ende erscheinen auf der Leinwand einer von Alexs Droogs gemeinsam mit Billy Boy, dem Anführer der rivalisierenden Gang, in Schwarze-Sheriff-Uniformen. Nun dürfen sie in staatlichem Auftrag auf Obdachlose einprügeln – bis sie Alex entdecken und sich dann an ihm rächen.

Die Wut entlädt sich bei Alex and his Droogs stets nach unten. Sie verprügeln Wehrlose – Obdachlose, einen Schriftsteller, töten eine alleinstehende Frau. Sie fühlen sich als Rebellen „gegen die Ordnung/ und die scheinbar heile Welt“, doch sind auch sie nur Rädchen im Getriebe, so wie auch Alexs Eltern, die dem ganzen Treiben hilf- und vor allem tatenlos zusehen. Also alle nur Opfer?

Gegen Ende von „The Clockwork Condition“ zitiert Burgess Jean Paul Sartre: „Man hat uns beigebracht, das [Böse] ernst zu nehmen. Es ist weder unsere Schuld noch unser Verdienst, wenn wir in einer Zeit lebten, in der Folter eine alltägliche Tatsache war. Châteaubriand, Oradour, die Rue des Saussaies, Dachau und Auschwitz haben uns alle gezeigt, dass das Böse keine Erscheinung ist, dass das Wissen um seine Ursachen es nicht vertreibt, dass es dem Guten nicht gegenübersteht wie eine verworrene Idee einer klaren. [...] Trotz allem kamen wir zu dieser Schlussfolgerung, die erhabenen Seelen schockierend erscheinen wird: Das Böse kann nicht erlöst werden.“

Die festgefahrene, ermüdete, korrupte Epoche der 1930er Jahre in Frankreich habe „a kind of clockwork condition“ repräsentiert, ein unaufhörliches „ticking of the human machine“, schreibt Burgess. Aber „Rädchen im Getriebe“ waren nicht alle: „There was the Resistance; there was the final and irreducible freedom to say No to evil.“ Burgess stellt klar: „That a man may be willing to suffer torture and death for the sake of a principle is a kind of mad perversity that makes little sense in the behaviorist’s laboratory.“

Dies hier nur als appetizer, sich eingehender mit Alex DeLarge zu beschäftigen. Burgess merkte an, dass er den Namen bewusst in Anlehnung an „Alexander der Große“ gewählt habe.

Thomas Giese

Zur vertiefenden Lektüre bzw. TV:
„Clockwork Orange. Im Räderwerk der Gewalt“(arte; im Netz abrufbar)
Anthony Burgess: „A Clockwork Orange.“(im englischen Original auf ungarischer Website)
Anthony Burgess: „The Clockwork Condition“(Auszüge im Netz verfügbar)