Erinnerung auf Beat

Kurt Tallert und der Klang der Vergangenheit

Ein Donnerstagabend im November. Die Stühle im Bilker Bunker Schleuse Zwei füllen sich, das DJ-Pult bleibt frei. Es ist still, doch die Bar läuft auf Hochtouren. Ein Plakat verrät den Grund, heute tritt Kurt Tallert auf, Rap-Enthusiasten besser bekannt als Retrogott. Der steht diesmal nicht als MC auf der Bühne, sondern sitzt dort als Autor. Dieser Abend dreht sich nämlich um seinen Debüt-Roman „Spur und Abweg“, eine Lesung ausgerichtet vom Haus der Geschichte. Moderatorin Rebekka Link macht schnell klar, wofür der Name der Veranstaltungsreihe „Geschichte mit Rheinblick“ steht. Auf über 200 Seiten versucht sich Kurt Tallert, seinen früh verstorbenen Vater und damit auch die eigene Familiengeschichte zu ergründen.

Dieses Erinnern ist Arbeit. Von seinem Vater Harry Tallert sind ihm nicht viele Erinnerungen geblieben und die weisen Lücken auf. Als „Mischling ersten Grades“ gebrandmarkt, erlebt Harry Tallert den Aufstieg der Nazis und wird 1944 ins Lenner Lager versetzt. Viele Teile seiner Familie fallen den Nazis zum Opfer. Er überlebt und macht Karriere, sitzt später für die SPD im Bundestag. Dabei bleibt er Teil eines Lands, das sich schwer tut mit der Aufarbeitung der Nazivergangenheit. Kurt Tallert will diese Lücken verstehen und setzt sich dafür mit der inneren Zerrissenheit seines Vaters auseinander.

Der Abend gestaltet sich abwechslungsreich. Immer wieder kommt es zum Dialog mit der Moderatorin, die Ideen und Geschichten aus dem Buch aufgreift und Fragen an den heutigen Kurt Tallert richtet. Im Anschluss liest er eine weitere Passage vor. Es dreht sich um eine Synagoge, die in der Reichspogromnacht niedergebrannt wurde. Ein Platz, an dem in der Nachkriegszeit eine Tankstelle gebaut wurde, wo Vater und Sohn die Gedenktafel suchen und halb versteckt auf der Rückwand finden. Eine andere Passage erläutert die grausame Absurdität der Nürnberger Gesetze, die die Frau Harrys zwangen, das Netzteil des Familienradios mitzunehmen, weil ihr jüdischer Mann nicht ohne sie Radio hören durfte.

Tallert schreibt lebhaft und authentisch. Im Zentrum des Buchs stehen nicht die Antworten und Fragen, sondern auch seine eigene Auseinandersetzung. Wie steht er zur Geschichte seines Vaters, wie fühlt sich diese Recherche an? Dann öffnet er seinen Laptop und steht auf, um einen Song als Retrogott zu rappen. Der Sprung vom Papier zum Boombap-Beat verläuft nahtlos. Vor diesem Kontext bekommen seine Songtexte, die sowieso schon nachdenklich waren, eine neue Bedeutung. Lines zum Zeitgeist werden fast schon persönlich, ein Teil der vorgelesenen Recherchearbeit. Am Ende kann man zur gelungenen Lesung gratulieren und das Buch kaufen, fürs Lesen und das obligatorische Autogramm.

Auch wenn Tallert bewusst bei seiner eigenen Familiengeschichte geblieben ist, die politischen Untertöne scheinen immer wieder durch. Antisemitismus damals und heute, die deutsche Verdrängungspolitik, die Unmöglichkeit, Geschichte abzuschließen. Die Lesung zeigt: Erinnerung ist mehr als Zuhören. Sie ist Nachforschen, Fragen stellen und manchmal auch ein Verstehen, das unvollständig bleibt. Und etwas, das wir, persönlich wie kollektiv, leisten sollten.

Lennart