„Draußen vor der Tür” im D’Haus

Warum schweigt ihr denn? Gibt es keine Antwort?

„Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will“, so der einleitende Satz von Wolfgang Borchert. Aber es kam ganz anders. „Draußen vor der Tür“ wurde berühmt, zum Antikriegsdrama schlechthin, zur Schullektüre, zum Theaterklassiker. Borchert schrieb das Stück 1946 innerhalb weniger Tage wie im Fieberwahn. Die Uraufführung am 21. November 1947 in den Hamburger Kammerspielen hat er nicht mehr erlebt. Er starb am Tag zuvor im Alter von 26 Jahren, körperlich versehrt und seelisch traumatisiert vom Zweiten Weltkrieg.

Er war Soldat, zum Tode Verurteilter, Kriegsgefangener, Flüchtling – dabei war er doch Pazifist und Gegner des Naziregimes. Bereits in jungen Jahren begann er zu schreiben. 1939, als 18-Jähriger, verfasste er zusammen mit einem Freund das Theaterstück „Käse“, eine Hitler-Parodie, die die Geschichte eines Käsehändlers erzählt, der die Welt erobern will. Borchert hinterließ trotz intensiven Schaffens nur ein schmales Werk an Prosa, Lyrik und Theaterstücken.

Das bekannteste Werk ist und bleibt „Draußen vor der Tür“, ein Menschheitsdrama, das im ausgehenden Jahr 2024 zeitgemäßer kaum vorstellbar ist, eine drastische Darstellung der unfassbaren Zerstörung, die Menschen einander durch Kriege zufügen. Im Jahr 2023 gab es laut Friedensgutachten so viele Gewaltkonflikte auf der Welt wie nie zuvor. Es ist die erschütternde Realität, die Borcherts Werk aktueller denn je macht.

Beckmann und der Andere

Regisseur Adrian Figueroa inszenierte Borcherts Stück für das Düsseldorfer Schauspielhaus expressionistisch, düster, albtraumhaft und mit eindringlichen Bildern. Die ausverkaufte Premiere am 5.10.24 fand viel Lob und Anerkennung, auch in der Düsseldorfer Tagespresse.

Die Handlung sei kurz zusammengefasst: Ein 25 Jahre junger Mann kehrt nach Jahren von Krieg und Gefangenschaft in seine zerstörte Heimatstadt zurück. Nirgendwo findet er wieder, was er zurücklassen musste. Seine Frau hat einen neuen Mann, sein Kind starb, seine Eltern, eingefleischte Nazis, nahmen sich mit Gas das Leben. Der Mann hat alles verloren, sogar seinen Vornamen, er ist nur noch Beckmann, ein abgerissener, versehrter, lebensmüder Mann, schwer humpelnd, sein Markenzeichen ist eine Gasmaskenbrille. Er bleibt fortan draußen vor der Tür, immer wieder. Seine abgrundtiefe Verzweiflung über das Durchlebte und das Vorgefundene treiben ihn ins Wasser, doch die ersehnte Ruhe des Todes ist ihm nicht vergönnt. Der Andere tritt auf den Plan, eine Mischung aus Alter Ego, Gewissen, Rest-Lebenswillen, mit dem Beckmann fortan Zwiesprache hält und durch ein Auf und Ab von Hoffnung und Hoffnungslosigkeit gehetzt wird. Es folgt eine Odyssee von entmutigenden Begebenheiten, verzweifelten Versuchen, in all dem Zerstörten eine Perspektive zu finden.

Nachts, wenn die Toten kommen

So verlangt der von grausamen Alpträumen heimgesuchte Beckmann von seinem Oberst die Rücknahme der Verantwortung, die der ihm einst für 20 Soldaten gab. Elf kamen ums Leben. Der Oberst verantwortet Tausende Tote, da fallen elf weitere nicht ins Gewicht, so Beckmann, der hofft, mit der Rückgabe der Verantwortung auch seine Albträume loszuwerden: Nachts, wenn die Toten kommen, und er nicht schlafen kann. Aber der Oberst lacht ihn aus, mit dieser Nummer könne er auf die Bühne! Er schickt ihn zum Kabarettdirektor, der aber von Beckmanns Erlebnissen, von der grausamen Wahrheit, nichts wissen will und fürchtet, mit dessen Auftritt das Publikum zu verschrecken, das gekitzelt und nicht gezwickt werden wolle. Mit der Wahrheit habe die Kunst doch nichts zu tun, so weist der Direktor Beckmann ab.

Regisseur Figueroa blieb sehr nahe an Borcherts Originaltext, und gruseliger geht es kaum als in Beckmanns trunkenem Monolog nach dem Besuch beim Oberst: „Die Leute haben recht. Prost. Sollen wir uns hinstellen und um die Toten trauern, wo er uns selbst dicht auf den Hacken sitzt? Prost. Die Leute haben recht! Die Toten wachsen uns über den Kopf. Gestern zehn Millionen. Heute sind es schon dreißig. Morgen kommt einer und sprengt einen ganzen Erdteil in die Luft. Nächste Woche erfindet einer den Mord aller in sieben Sekunden mit zehn Gramm Gift. Sollen wir trauern? Prost, ich hab das dunkle Gefühl, dass wir uns beizeiten nach einem anderen Planeten umsehen müssen. Prost! (...) Heil, Herr Oberst! Prost, es lebe das Blut! Es lebe das Gelächter über die Toten! Ich geh zum Zirkus, die Leute lachen sich kaputt, wenn es recht grausig hergeht, mit Blut und vielen Toten.”

Durch eine Kamera am Brustkorb des grandiosen Schauspielers Raphael Gehrmann sehen die Zuschauenden Perspektiven aus der Sicht Beckmanns, überlebensgroß auf Teile des in Schwarz gehaltenen Bühnenbildes projiziert. Eine zweite Kamera baumelt von der Bühnendecke und zeigt etwa Beckmanns verzweifeltes Gesicht mit der Gasmaskenbrille im Großformat. Gehrmann taumelt als Beckmann durch eine fremde, feindliche Welt, begleitet von Schauspielkollegin Sonja Beißwenger, die, ebenso grandios, den Anderen darstellt, wie ein Springteufel agiert, laut und überaus fordernd Beckmann weitertreibt, versucht, seine Endzeit-Gedanken in Lebenswillen zu verwandeln, sie ätzt, tröstet, schreit, motiviert. Unglaublich intensiv erleben wir als Zuschauende die Qualen, die Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, warten bis zum Schluss der fast 2-stündigen Aufführung, ob sich Beckmann mit Zutun des Anderen vielleicht doch eine Perspektive für ein Überleben, ein Weiterleben, erkämpfen kann. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Nebelumwaberte Endzeitstimmung

Die Drehbühne stellt in mitunter schwindelerregender Abfolge mittels schwarzer Kuben, die sich heben und senken, die finsteren Orte des Geschehens dar. Von Nebel umwabert, grau, schwarz, blendende Lichteffekte, in dieser kleinen Welt ist nichts harmonisch, anheimelnd oder lebenswert, auch ohne Trümmer eine zerstörte Welt. Der Goldflitter, der verstreut wird, gibt keinen Hoffnungsschimmer her, er bleibt zertrampelt auf der Bühne liegen. Mensch fühlt sich fast wie ein Voyeur, schaut durch die Fenster und Türen der Kuben in die wechselnden Räume der Handlung, die darin stattfindet, auch ins Wohnzimmer des Obersts, der frisst und säuft, während er sich widerwillig Beckmanns Begehren, nämlich die Rücknahme der Verantwortung, anhört. Den Anderen im Schlepptau, landet Beckmann immer wieder draußen vor der Tür, steht immer wieder vor der Hoffnungslosigkeit. Der Andere zerrt ihn weiter, ein Veitstanz, springend, rennend, zuckend, Beckmann humpelnd, oftmals kurz vorm Zusammenbruch, auf der Jagd oder auf der Flucht.

Die dystopische Musik, Klangfolgen so düster, hart und metallisch, mitunter von aufschreckender Lautstärke, dass es nur so kracht, scheppert und brüllt, gibt der Inszenierung den akustischen Rahmen, der passender kaum sein könnte.

Die Schlussworte Beckmanns: „Warum schweigt ihr denn? Gibt denn keiner Antwort? Gibt es keine Antwort?” Sie machen denn auch sprachlos. Der folgende donnernde Applaus gilt den großartigen Darsteller*innen sowie allen, die daran mitgewirkt haben, dieses Antikriegsdrama so nachhaltig beeindruckend auf die Bühne zu bringen.

Christine

Die nächsten Vorstellungen: 13. und 31.1.25, jeweils 19.30, Schauspielhaus, Großes Haus.