TERZ 03.25 – BRAUCHTUM
Lange vor Jacques Tilly gab es einen politisch-satirischen Karneval in der Landeshauptstadt. Schon vor 180 Jahren wurde gegen Sozialdumping und Börsencrashtests angestunkt ...
Eine aufgeklappte Kloschüssel ist auf ein Schild gepinselt, darüber der Schriftzug: „Klobalisierung.“ Mit brauner Farbe ist auf dem Klo die Südhalbkugel aufgemalt. Prinzip Klospülung: Die ganze Scheiße landet in Afrika. Daneben eine lange Stange den Spruch: „Entscheidend ist, was hinten rauskommt“ – ein Zitat des damaligen Kanzlers Kohl. Ein Schilderwald mit Einsparvorschlägen folgt: „Mein Schwur: Keine Kur!“, „Zahnersatz Gelenkprothesen – alles ist einmal gewesen!“, „Weg mit den Krücken!/ Ich kann mich doch bücken!“ Das war 1997. In der Kölnischen Rundschau begann die Rosenmontagsberichterstattung mit den Zeilen: „Die Vorhut kam ausgerechnet aus Düsseldorf, und dann noch als Demo: ein paar Jecke aus der Landeshauptstadt protestierten mit ihren Plakaten gegen den Trend zur ‚Klobalisierung‘ in der Bonner Regierungspolitik. Ihre Parolen: ‚Früh-Kölsch statt Früh-Rente‘, ‚Mehr Alt statt Gehalt‘ und ‚Rente weg - trotzdem jeck.‘ “
Urheber der Satire waren die „Unorganisierten Pappnasen n.e.V.“ (n.e.V. = nicht eingetragener Verein). Die waren, wie auch der Verein Farbfieber e.V., aus der „Wandmalgruppe Düsseldorf“ hervorgegangen, bevor diese 1991 das Zeitliche segnete. Auch der Autor dieser Zeilen gehörte dazu. Diese Unorganisierten ließen sich mal vor dem Altbierstädter, mal vor dem Neusser und oft vor dem Kölner Rosenmontags- oder Geisterzug blicken – zweimal gaben sie auch ein Gastspiel in Bremen beim Sambakarneval. Die aktivste Pappnase war Anne Aumann, die 1981 dazustieß, als das erste bissige Narrengefährt der Wandmalgruppe entstand: der „McRonald’s Schießburger“ – ein 3 m hoher Big Mac, garniert mit gigantischen Tomaten- und -Gurkenscheiben aus Styropor, gespickt mit Papp-Atomraketen (Ronald Reagan propagierte damals die Stationierung von Cruise Missiles und Pershing II). Stets entstanden die Aktionen in Kooperation mit Initiativen. 1984 kam die „Schüler*innen- und Lehrer*inneninitiative für Frieden“ gleich mit einer fertigen Idee: In feinem Zwirn herausgeputzt marschierten wir als champagnertrinkende Unternehmer*innenschaft – Motto: „Für uns Kaviar, für Euch Kohl!“ – dem Zoch voran. Der Sozialabbau und die Schere zwischen Arm und Reich waren immer wieder Thema. 1994 hatten sich die offiziellen Närrinnen und Narren erstmalig von Mercedes-Benz, Gatzweiler & Co. sponsern lassen, die ihre Firmenembleme auf die Narrenwagen pappen durften. Wir Politnarren propagierten dagegen das „Sozialsponsoring“: Per Glücksrad wurde ein „Eigenheim light“ (ein von LBS gespendetes Zelt) und ein Rollstuhl, dessen Räder stylisch als gigantische Mercedessterne blinkten, verlost. Die Gerresheimer Glashütte steuerte eine Brille aus Altglas bei. Das Glücksrad war gekrönt von einem Arbeitsamtszeichen und dem Slogan: „Jugend hat Chancen.“ Hauptgewinn: Ein Arbeitsplatz bei einem bekannten Düsseldorfer Unternehmen. Unsere Pappnasen-Satire war Reaktion auf die skandalöse Äußerung eines Obernarren bei einer Sitzung des Carneval-Commités, die durch einen anonymen Brief an die Öffentlichkeit gelangt war: „Wir machen keinen Karneval für Rentner und Arbeitslose.“.
Darf ein Mensch über derart Ernstes lachen? „Fällt Dir was Besseres ein, was man mit Problemen tun könnte“, fragte Rio Reiser im April 1990 den WDR-Moderator. Angesichts der aktuellen Situation bliebe ja „nicht viel Wahl“, meinte Rio. „Was soll man machen? Kotzen oder Lachen?“ (youtube: „RIO REISER - TV 1990; Musik & Interview“). Rio steckte die Volkskammerwahl, die zwei Wochen zuvor stattfand, noch in den Knochen. Nicht die Bürgerrechtsparteien hatten gesiegt, sondern der Politimport aus der BRD: Die SPD, und allen voran die CDU, deren „Schwesterpartei“ – die CDU-West – Unmengen Kapital in Wahlwerbung investierte und das Blaue vom Himmel („blühende Landschaften“) log. Die Folgen sind bekannt. Also Kotzen oder Lachen?
Humor hat aber durchaus seine Grenzen. Der aktuelle Altbierstädter Wagen-Bauer Jacques Tilly verfügt in puncto Humor und Grenzen von Humor nur über rudimentäre Kenntnisse. Immer wieder entgleisen ihm seine Wagen. Die schlimmste Entgleisung: Das Gefährt „Wirklichkeit und Klischee“ (2007). Zu sehen waren zwei identische Turbanträger mit hasserfüllten Mienen und umgehängten Sprengstoffgürteln – in der linken Hand jeweils einen Säbel, in der rechten eine Pistole. Einziger Unterschied: Dem einen war ein Schild „Wirklichkeit“, dem anderen „Klischee“ umgehängt. Die Bildaussage: Muslime sind voller Hass. Das sei in der Vergangenheit (Säbel) so gewesen und heute (Pistole) ebenso. Muslime sind gefährliche Sprengstoffattentäter. Das sei nicht nur ein Klischee, sondern die „Wirklichkeit“. Dieser Wagen war in der Tat ein Griff ins Klo. Er bediente gängige Klischees. Irritierend war, dass der Wagen über die Grenzen hinweg viel Applaus erhielt. Jacques Tilly hat aber nie einen Zweifel an seiner politischen Haltung aufkommen lassen. Seine Pappmascheekarikaturen tauchen stets (auch) bei Versammlungen und Demonstrationen gegen Neonazismus auf.
Im 19. Jahrhundert kämpften Demokrat*innen und Sozialist*innen unter „schirmender Narrenkappe“ gegen „Dummheit und Trug und die Verfinsterung.“ Sie hatten sich „statt des Schwertes mit der Pritsche bewaffnet.“ So wagten sie „den Kampf gegen Geistesdruck und Vorurtheil.“ Sie proklamierten: „Es ist zwar nur ein Guerillakrieg, doch der Sieg wird uns nicht fehlen.“ Dieser Spaßguerillaaufruf des Allgemeinen Vereins der Carnevalsfreunde zu Düsseldorf entstand 1846. Der Kampf der Spaßguerilleros richtete sich an vorderster Front gegen die Dummheit zu glauben, der eine Teil der Menschheit sei von Natur aus dazu bestimmt, in Wohlstand zu prassen, während der Rest wie Wanderratten vom Müll in den Mund lebt. Der Aufruf durfte nicht in Druck gehen. Die preußische Zensurbehörde heftete ihn aber sorgfältig ab. Er liegt heute im dem am Duisburger Innenhafen gelegenen Landesarchiv NRW.
Nur wenige hundert Meter entfernt befindet sich das Archiv für alternatives Schrifttum (afas), das bundesweit größte Freie Archiv für Materialien der Neuen Sozialen Bewegungen. Im September 2023 hat sich Anne Aumann entschlossen, ihre umfangreiche Sammlung über satirische Straßen- und Karnevalsaktionen diesem Archiv zu übereignen. Mit ihrem Witz inspirierte sie zahlreiche Karnevals- und Straßenaktionen und hielt damit auch die jeweiligen Aktiven bei bester Laune. Sie ist ein brillantes Beispiel, wie mit Schalkhaftigkeit den Verhältnissen zu trotzen ist, und seien sie auch noch so übel. Sie besitzt einen geradezu entwaffnenden Humor. Kostprobe? Am Rande eines Straßenfestes ging sie mal auf eine vor einem Polizeiwagen – damals noch in grün-weiß – stehende Streife zu und fragte frech: „Also hier muss ich jetzt das grüne, und dort das weiße Glas einwerfen?“ Der Beamte beugte sich zu ihr, flüsterte ihr ins Ohr: „Ach wissen Sie, da werfen Sie am besten gar nichts ein. Da sitzen schon genug Flaschen drin.“ Nach einem unglücklichen Sturz im Düsseldorfer Martinus-Krankenhaus im Januar 2023, bei dem sie eine Hirnblutung erlitt, ist die nunmehr 72-Jährige an den Rollstuhl gefesselt und musste in ein Senior*innenheim umziehen. Sie hat oft tierische Schmerzen, die von Haltungsschäden herrühren, da sie erst nach zwei Jahren einen angepassten Rollstuhl erhielt. Bis dahin musste sie sich mit einem Provisorium begnügen. Erst nach einem Widerspruch gegen die Ablehnung durch die AOK, die ihn zunächst als „nicht notwendig“ erachtete, wurde er geliefert. Mit witzigen Pointen versucht sie den Schmerz zu überspielen. Frau Aumann hofft nun auf Reha-Maßnahmen, damit sie bald ihre wöchentlichen Besuche im afas-Archiv wieder aufnehmen kann, wo sie gemeinsam mit mir ihre Archivalien mit Anmerkungen versieht, so dass diese in Zukunft von Archivnutzer*innen genutzt werden können.
Beim Durcharbeiten ihres Archivs wieder auf tolle Sachen gestoßen: Die Friedenstauben vom Ostermarsch 2003, die über „Scheiß Überstunden!“ klagten und davon träumten, „mal blau zu machen“; 2006 erklärte das Düsseldorfer Sozialforum die Girardet-Brücke über den Kö-Graben am Karnevalssonntag zur „Brücke in den 1.-Arbeitsmarkt“. „Vom Konfetti-Stanzer zum Millionär“, so versprachen die Närrinnen und Narren jedem Arbeitslosen eine glänzende Karriere. 1-Euro-Jobber*innen produzierten Happy-Zusatzkonfetti für die Kö-Närr*innen und machten sich durch diese „Zusatzarbeit“ fit für den 1. Arbeitsmarkt. Mit Bürolochern stellten sie tausende Happy-Zusatzkonfetti her. Auch diese geniale Idee stammte von Anne Aumann. Viele Kö-Närr*innen stiegen auf die Satire ein: „Ist ja auch schön, dass Sie jetzt wieder eine feste Tagesstruktur haben“, meinte einer.
Der bissige Politkarneval begann aber nicht erst 1981 mit dem „McRonald’s Schießburger“. Bereits 1967, als noch viele „Kraft durch Freude“-Närrinnen und -Narren am Ruder waren, wagten Mutige den Protest. Studierende hatten ordnungsgemäß beim Carnevals-Commité (CC) beantragt, sich mit einem Mottowagen am Zoch zu beteiligen. „Vielleicht gelingt es uns auf diese Weise, der Bevölkerung klarzumachen, dass sich in Düsseldorf seit einiger Zeit eine Universität befindet“, witzelte der AStA-Vorstand. Es wurde eigens „ein Extra-Polizeiaufgebot bestellt“ („Pro-These“). Als „Ho-Ho-Ho-chi-minh“-Sprechchöre ertönten, wurde der Zündschlüssel von der Zugmaschine noch vor dem Start abgezogen. Erst nach Verhandlungen mit dem CC wurde Starterlaubnis erteilt. Angesichts der massiven Cop-Präsenz verlegte sich das Grüppchen auf „Ho-Ho-Hosenträger“-Rufe. Die Hochschuljeck*innen wurden kreativ. Da das Zeigen von Transparenten untersagt war, wurde das mit der Aufschrift „Jedem Zwergschüler seine Zwerguniversität“ nur kurz vor den Fernsehkameras gezückt. Via Presse beschwerte sich der CC-Präsident und lobte als positives Beispiel einen anderen, unter dem Motto „Packt den Teufel, Dutschke und Genossen in den Käfig“ gestarteten Wagen: „Dieser Gruppe können wir nur unsere Hochachtung aussprechen, denn sie hat sich während des Zuges vorbildlich verhalten“. Die Hetz-Propaganda der BILD-Zeitung entsprach in Teilen also durchaus damaligem „Volkswillen“. Der Status Quo unterscheidet sich also nur in Nuancen von früher.
„Das Leben ist im Grunde so fatal ernsthaft, dass es nicht zu ertragen wäre ohne die Verbindung des Pathetischen mit dem Komischen“, schrieb Heinrich Heine. Nachzulesen in „Ideen. Das Buch Le Grand.“ Im 11. Kapitel lässt er den lieben Gott sogar höchstpersönlich aus seiner Himmelsloge „auf uns Komödianten hier unten“ niederschauen, sich fürchterlich langweilen und nachrechnen, „daß dieses Theater sich nicht mehr lange halten kann, weil der eine zuviel Gage und der andere zu wenig bekommt und alle viel zu schlecht spielen.“
Thomas Giese