TERZ 04.25 – MUSIC
Nach dem Ergebnis der Bundestagswahl wollen wir uns am liebsten nur noch in der Wohnung einschließen, den Schlüssel wegschmeißen und Musik hören! Hier unser Soundtrack dazu:
Die amerikanische Singer- und Songwriterin Sharon Van Etten, beheimatet in Brooklyn, New York City hat mit The Attachment Theory ihr siebtes Album auf dem Label Jagjaguwar (Bloomington, Indiana) veröffentlicht. Auf Jagjaguwar ist van Etten seit 2012 bisher hauptsächlich als Solokünstlerin beheimatet. Auf ihrem siebten Album bezieht Sharon ihre Begleitband The Attachment Theory zum ersten Mal mit in den kreativen Prozess ein. Devra Hoff, Jorge Balbi und Teeny Lieberson haben teils schon vorher als Musiker*innen mit ihr zusammengearbeitet, sind aber nun auch am Songwriting und weiteren Phasen der Album-Produktion beteiligt. Sharon van Etten hat das Loslassen gutgetan, es ist zu spüren, wie sie es genießt, Verantwortung zu teilen und auf Augenhöhe mit Hoff & Co. zu arbeiten. Entstanden ist ein dunkles, aber trotzdem poppiges Album, auf dem auch New Wave und Postpunk-Elemente herauszuhören sind. Klassisch instrumentiert mit Gesang, Gitarre, Bass und Schlagzeug kommen aber auch (Drum)Machines, Synthesizer und ein Piano zu Einsatz. Ein für Sharon van Etten ungewöhnliches und sperriges Album, das sich erst nach mehrmaligem Hören ganz erschließt und dann immer tiefgründiger wird. Textlich geht es um das Leben und den Alltag, lieben und geliebt werden, und wie sich das auf uns auswirkt. Produziert wurde das Album federführend von Marta Salogni in ihrem Studio Zona. Diese ist wiederum bekannt durch ihre Arbeiten für zum Beispiel Björk, Bon Iver, Animal Collective, Mica Levi und Dave Gahan. Das Mastering hat wieder einmal Heba Kadry in ihrem Studio übernommen. Alles in allem, wie schon oben erwähnt, ein tolles Album, das einfach Zeit braucht, um sich zu entfalten.
Pünktlich zum Frühlingsbeginn hat die schwedische Sludge/Black Metal/Hardcore Band This Gift Is A Curse ihr viertes Album Heir über Season Of Mist veröffentlicht. Aufmerksam geworden sind wir auf TGIAC bei der Hexis Show im September 2022 im Linken Zentrum. Hatten die sympathischen Dänen doch eine überzeugende Split-Single mit TGIAC im Gepäck. Auf Heir prügeln, grunzen und schreien sich TGIAC gnadenlos durch 10 Songs und machen uns wieder einmal klar, warum skandinavischer Krach immer noch so geil und wegweisend ist. Treibend, düster, atmosphärisch, beinah apokalyptisch! Schnelle, brutale Parts wechseln sich mit sphärischen leisen Takes ab und vermischen alles zu einer alptraumhaften Soundcollage. Bei drei Tracks werden TGIAC von Livmødr aka Laura Morgan unterstützt. Die in Stockholm beheimatete Sängerin und Musikerin bringt noch mehr Düsternis in den Sound und verkörpert quasi den skandinavischen nicht endenden Fimbulwinter[1].
Jetzt geht es zurück in die Siebziger Jahre der niederländischen Musikszene. Das amerikanische Label Modern Harmonic, spezialisiert auf Wiederveröffentlichungen, hat sich des niederländischen Labels Plurex angenommen und 12 Proto-Post-Punk-Singles aus den Jahren 1978 bis 1980 auf einer Doppel-LP vereinigt: From Punk To Ultra: The Plurex Story. Alle A-Seiten sind auf der einen LP, die B-Seiten auf der anderen LP versammelt. Die einzige Band des Samplers, die uns bisher bekannt war, sind die Minny Pops. Veröffentlichten diese doch 1981 auf dem legendären Label Factory die Dolphin‘s Spurt Single. Die Minny Pops waren so etwas wie das internationale Aushängeschild Hollands und überregional bekannt. Sie veröffentlichten ihr zweites Album Sparks In A Dark Room 1982 bei Factory Benelux. Andere Bands, wie die Tits, die Mollesters oder The Filth veröffentlichen auf Plurex nur eine Single und blieben One Hit Wonder. Mit The Mumbles aus Sacramento, Kalifornien ist der erste nicht holländische Act, den Plurex auf dem Label hatte, auf der Doppel-LP vertreten. Plurex war immer wieder bereit, neue musikalische Wege zu beschreiten, von konfrontativen Punk-Nummern bis hin zu elektronischen Attacken. Bekannt wurde diese niederländische Musikszene später als „Ultra“. Plurex Records wurde 1977 von Wally Van Middendorp (Minny Pops) und Sam Tjioe gegründet. Beide Labelgründer wurden für die Doppel-LP interviewt, ergänzend gibt es ausführliche Linernotes. Leider sind die Original-Single-Cover nicht abgebildet… Ansonsten ist Paradiso Punks And Electronic Outlaws: Inside The Plurex Story (Untertitel im Klappcover) eine sehr ausführliche Geschichtsstunde, die uns in die späten siebziger Jahre unserer holländischen Nachbarn mitnimmt und das Lebensgefühl der „Ultra“ Szene vermittelt. Plurex war bis 1983 aktiv und verwaltet seit ca. 2008 in Zusammenarbeit mit anderen Labeln seinen Backkatalog. Um den Sampler zu erwerben, muss mensch auch nicht nach Venlo zu Sounds fahren, ich habe ihn mittlerweile in Düsseldorf entdeckt. Klaar, af, gaan!
Die kanadische Postrock-Band Godspeed You! Black Emperor hat ihr achtes Studioalbum No Title As Of 13 February 2024 28,340 Dead zwar schon letztes Jahr im Oktober veröffentlicht. Da Mrs. Cave und ich aber a.) die Band endlich live in Karlsruhe, im Tollhaus, gesehen haben und b.) das neue Release auch wieder „atemberauschend“ ist, gehen wir auf beides ausführlicher ein.
Wie alle anderen Alben und auch die 99er-EP Slow Riot For New Zero Kanada ist auch No Title As Of 13 February 2024 28,340 Dead wieder auf dem ebenfalls in Kanada beheimateten Label Constellation[2] veröffentlicht worden. Alle Constellation-Sachen, inklusive der Godspeed-Veröffentlichungen, sind alleine schon vom Artwork und der Covergestaltung her absolute Eye-Catcher und laden beim Stöbern in Plattenkisten sofort dazu ein, sich näher mit dem jeweiligen Release zu beschäftigen. Das gleiche trifft auch auf die Godspeed-Shows zu, arbeitet die Band doch auf der Bühne mit mehreren 16-mm-Projektoren, die eine Collage aus sich überlagernden analogen Filmschleifen und -rollen abspielen und so schon ein absolutes visuelles Live-Erlebnis bieten. Deswegen sind die beiden Filmbearbeiter Karl Lemieux und Philippe Léonard auch auf dem letzten Album namentlich erwähnt und werden offiziell als Bandmitglieder geführt. Des Weiteren besteht Godspeed aus Thierry Amar (E-Bass & Kontrabass), Mauro Pezzente (E-Bass), Michael Moya (E-Gitarre), David Bryant & Efrim Manuel Menuck (beide E-Gitarre & Tape Loops), Aidan Girt (Schlagzeug), Timothy Herzog (Schlagzeug & Glockenspiel) und Sophie Trudeau (Violine). Alle acht Musiker*innen erzeugen auf den Alben einen hypnotisierende Wall Of Sound, der immer punkt- und taktgenau umgesetzt wird. Es gibt keine Noise- und Feedback-Orgien, wie bei anderen Bands dieses Genres, es wird eher eine berauschende Atmosphäre erzeugt, die in einen tranceähnlichen Zustand versetzen kann. Von diversen Konzertberichten angefixt war die Erwartungshaltung also dementsprechend hoch, wie die Liveumsetzung funktionieren wird. Die introvertierten Godspeed sind sehr selten auf Tour und spielen wenige Shows. Der einzige Deutschland-Gig am 14.03.25 im Karlsruher Tollhaus hat Fans aus Österreich, der Schweiz und Frankreich angezogen!
Und es hat sich gelohnt! Bestens abgemischt, nicht zu laut, mit hervorragender Soundqualität spielten Godspeed 100 Minuten lang alles an die wortwörtliche Wand. Jeder Aspekt passte, auch die Location. Das Tollhaus befindet sich auf dem ehemaligen Standort des Schlachthofs, die vielen Backsteinbauten vermittelten uns beim Betreten des Geländes das Gefühl, eine Zeitreise angetreten zu haben. Also ein Konzerttrip, der uns wahrscheinlich länger in Erinnerung bleiben wird.
Zu Godspeed sei noch anzumerken, die Band selber sieht sich als Protestband, ihre Musik wird auch öfters als Protesmusik bezeichnet. Das spiegelt sich in vielem wider. Preisgelder wurden abgelehnt, es gibt wohl nur zwei offizielle Bandfotos, Interviews wurden bis jetzt nur schriftlich und im Kollektiv beantwortet, die Social-Media-Präsenz hält sich in Grenzen.
Auf dem Rückweg am Samstag hatten Mrs. Cave und ich noch Zeit, den relativ jungen Plattenladen (Eröffnung 2024) Dixigas Records am Karlsruher HbF aufzusuchen. Ein großer, heller, willkommen heißender Laden mit sehr freundlichem „Personal“ und einer riesigen Auswahl an Vinyl, Tapes und vielem mehr. Diverse Tonträger wanderten ins Plattentäschle (eine Crass 7“, von der Blackgaze-Band Alcest das Écailles De Lunes Album, der Becket-Soundtrack von Ryuichi Sakamoto und eine Tape-Kompilation von Cuir, Electro-Punk aus Frankreich) sowie zwei Tapes lokaler Bands aus Karlsruhe:
Bleak Monday spielen klassischen Synthwave, wie er in den 80-90er Jahren auch im Zwischenfall oder ähnlichen Grufttempeln im Ruhrgebiet und Rheinland hätte laufen können. Die zweite EP Flies ist letztes Jahr erschienen und lädt mit ihren fünf Songs zum klassischen „Gemeinsam Alleinsein“ ein. Kim Ryder (Gesang), Yann Lauer (Gitarre & Feedback) und Sebastian „Hubu“ Huber (Schlagzeug & Synth) legen auf ihrer zweiten EP eine kleine Perle vor, die wir weiter empfehlen können. Leider sind Bleak Monday momentan nur in Süddeutschland unterwegs, da wird sich ein Liveerlebnis nicht so schnell ergeben.
Das zweite Tape ist das Demo! von Jëg Hüsker, auch aus Karlsruhe. Diesmal gibt es wilden und rohen Garage-Punk der in bester Tradition an die Oblivians, Thee Oh Sees, The New Bomb Turks oder ähnliche Flaggschiffe dieser Szene erinnert. Auf dem Tape von 2023 sind vier kurze schnelle Granaten, die von Manu, Paul, Simon & Timo in unter acht Minuten heruntergerotzt werden und deswegen auf der B-Seite noch ein weiteres Mal hingerotzt werden!
Diesmal gibt es wieder einen „Werbeblock“: Unter Keiner Flagge veranstaltet am Samstag, den 12.04.25 im Linken Zentrum eine Show mit der New Yorker Band A Deer A Horse. Der Sound von ADAH erinnert schwer an die amerikanische Indie-Rock-Szene der 90er und 2000er Jahre, und Liebhaber*innen von Sonic Youth, den Melvins, Tad, Mike Patton oder L7 sollten sich die Show am 12.04. auf keinen Fall entgegen lassen. Sängerin & Bassistin Angela Phillips, Lead-Gitarristin Marissa Mazzotta, Cellistin & Gitarristin Ripley Shultz und Drummer Dylan Teggart freuen sich auf euch.
Als Support konnten wir Schneider | N aus Dortmund/Hückelhoven gewinnen!
Mrs. Cave und der Oberbilker
[1] Der Fimbulwinter (von altnordisch Fimbulvetr, „riesiger Winter“) ist in der nordischen Mythologie die erste der vier eschatologischen Katastrophen, die den Untergang der Götter, Ragnarök genannt, einleiten.
[2] Constellation wurde 1997 von Don Wilkie und Ian Ilavsky in Montréal gegründet.