Zwischen Repression und Aufbruch

Proteste in der Türkei und Solidarität in Düsseldorf

Von der Türkei nach Düsseldorf: Warum der Kampf gegen den (elektoralen) Autoritarismus international geführt werden muss.

Am 29. März 2025 versammelten sich hunderte Menschen auf dem Johannes-Rau-Platz in der Nähe des Düsseldorfer Landtags zu einer Solidaritätskundgebung für die Freilassung von Ekrem İmamoğlu. Der Bürgermeister von Istanbul, wichtigster Oppositionsführer (CHP) und seit Ende März offiziell nominierter Präsidentschaftskandidat, war zehn Tage zuvor verhaftet worden. Seitdem sitzt er vorgeblich wegen Korruptions- und Terrorismusunterstützungsvorwürfen in Untersuchungshaft und muss sich Anhörungen stellen. Die vorherige Aberkennung seines Universitätsabschlusses – in der Türkei eine Voraussetzung für die Wahl zum Präsidenten – und seine Verhaftung sind der jüngste Ausdruck des Systems der Repression gegenüber der politischen Opposition der vergangenen Jahre.

Seit Wochen formieren sich in der Türkei – anfangs täglich – Proteste, die längst auch in der Diaspora Widerhall finden. So auch in Düsseldorf. Die Demonstration wurde vom deutschen Arm der CHP organisiert und stand unter dem Motto: „Entweder alle zusammen oder keiner von uns.“ Viele der Teilnehmenden haben familiäre, politische oder kulturelle Verbindungen in die Türkei – in Düsseldorf leben zehntausende Menschen mit türkischer oder kurdischer Geschichte. Was dort geschieht, betrifft sie unmittelbar: ihre Angehörigen, ihre Geschichten, ihr Selbstverständnis.

Düsseldorf: Ein politisches Zuhause in der Diaspora

Die Geschichte der türkischen Community in Düsseldorf begann mit der sogenannten Anwerbephase in den 1960er Jahren. Im Zuge des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens von 1961 kamen zahlreiche „Arbeitsmigrant*innen“ aus der Türkei in die Bundesrepublik - viele von ihnen wurden in Industriebetrieben im Rheinland eingesetzt. Düsseldorf entwickelte sich schnell zu einem zentralen Ankunfts- und Lebensort, da hier nicht nur Arbeitsplätze lockten, sondern auch eine gute bestehende Netzwerke und nicht zuletzt Verkehrsanbindung. Was zunächst als temporäre Migration gedacht war, führte zur dauerhaften Ansiedlung vieler Familien.

In den folgenden Jahrzehnten differenzierte sich die Community stark aus: Neben ehemaligen „Arbeitsmigrant*innen“ kamen ab den 1970er Jahren zunehmend politische Geflüchtete – etwa nach dem Militärputsch 1980. Auch zahlreiche Kurd*innen, Alevit*innen, Aktivist*innen und in den 1990er Jahren abermals Geflüchtete – etwa infolge des Krieges im Südosten der Türkei – fanden in Düsseldorf Schutz und eine neue politische Heimat. Die Stadt wurde zu einem wichtigen Zentrum migrantischer Selbstorganisation: mit Moscheevereinen, Kulturzentren, alevitischen Gemeinden und kurdischen Vereinen.

Heute ist die türkischstämmige Bevölkerung in Düsseldorf nicht nur zahlenmäßig stark vertreten, sondern auch sozial, kulturell und politisch aktiv – in Vereinen, Gewerkschaften, Parteien, Medienprojekten oder Stadtteilinitiativen. Dabei spiegeln sich in der Community viele der gesellschaftlichen und politischen Konfliktlinien der Türkei wider: von AKP-nahen konservativen Strukturen bis hin zu emanzipatorischen, oppositionellen, kurdisch geprägten oder linken Gruppen. Trotz (oder gerade wegen) dieser Heterogenität ist Düsseldorf bis heute ein Ort, an dem politische Auseinandersetzungen mit der Türkei nicht nur beobachtet, sondern aktiv geführt werden – solidarisch, streitbar und in vielen Fällen mit einem klaren Blick für globale Zusammenhänge.

Die Straße spricht: Demokratie endet nicht an der Grenze

Mit Transparenten, Sprechchören und Redebeiträgen machten die Demonstrierenden am 29. März deutlich: Die Angriffe auf demokratische Strukturen in der Türkei gehen auch uns etwas an. Viele forderten nicht nur die Freilassung İmamoğlus, sondern auch einen Kurswechsel in der deutschen Außenpolitik. „Freiheit für alle politischen Gefangenen“ und „Schluss mit der Zusammenarbeit mit dem Erdoğan-Regime“ waren zentrale Parolen. Die Heterogenität der türkischstämmigen Bevölkerung in NRW und Düsseldorf spiegelte sich auch in der Demonstration wider: Sie wurde von verschiedenen Gruppen getragen – migrantischen, kurdischen, alevitischen, kemalistischen, sozialistischen, parteigebundenen wie unabhängigen sowie solidarischen Unterstützer*innen. Trotz der sonst zum Teil konkurrierenden politischen Positionen war mensch sich im Widerstand gegen Erdoğans Vorgehen einig. Meinungsverschiedenheiten zeigten sich nur selten, u.a. als neben der Freilassung İmamoğlus auch namentlich die Freilassung des prokurdischen Selahattin Demirtaş gefordert wurde. Hier vermischten sich Applaus und der Sprechchor „Wir sind die Soldaten von Mustafa Kemal Atatürk“.

Die Stimmung bei der Kundgebung sei entschlossen, solidarisch und friedlich gewesen, hieß es in Polizeiberichten. Viele Redner*innen machten deutlich: Die Repression gegen die Opposition in der Türkei ist nicht nur eine innenpolitische Frage - sie ist Teil eines systematischen Abbaus von Demokratie und Teilhabe und betrifft alle, die sich für eine offene Gesellschaft einsetzen. Unter den Redner*innen war auch die Landesvorsitzende der SPD NRW, Sarah Philipp, die die Solidarität ihrer Partei mit der Schwesterpartei CHP zum Ausdruck brachte.

Nicht nur symbolische Geste, sondern internationalistische Solidarität

Die Kundgebung auf dem Johannes-Rau-Platz war mehr als eine symbolische Geste. Sie war Ausdruck gelebter internationalistischer Solidarität - getragen von Menschen, die wissen, dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist. Und sie erinnerte daran, dass Düsseldorf nicht nur ein Ort der wirtschaftlichen Beziehungen zur Türkei ist, sondern auch ein Ort der politischen Verantwortung: für die, die hier leben und für die, die dort kämpfen. Dass trotz der kurzfristigen Mobilisierung Menschen aus vielen umliegenden Städten zusammengekommen sind, ist kein Zufall. Die Verhaftung İmamoğlus ist für viele nicht nur ein politischer Skandal, sondern ein deutliches Signal: Die Ausschaltung der Opposition hat System. Die Empörung ist nicht nur emotional, sondern politisch begründet – denn sie ist Teil einer Strategie, mit der Erdoğan gezielt seine Macht sichert.

Demokratie unter Vorbehalt: Die Türkei im autoritären Umbau

Die Verhaftung İmamoğlus wird als gezielter Versuch gedeutet, ihn politisch auszuschalten – und damit den Machterhalt Erdoğans vorzubereiten. Die Wahlen in der Türkei sind für 2028 angesetzt. Zu dieser Wahl könnte Erdoğan regulär nicht antreten, es wäre seine vierte Amtszeit und damit derzeit verfassungswidrig. Regierungskritiker*innen befürchten deshalb, dass er entweder eine Verfassungsänderung oder vorgezogene Neuwahlen anstrebt. Beides könnte ihm eine weitere Präsidentschaft ermöglichen. In beiden Szenarien erhöht die Inhaftierung eines der aussichtsreichsten Herausforderer seine Chancen.

Seit dem Referendum von 2017, durch welches die Macht des Präsidenten gestärkt und die Rechte des Parlaments beschnitten wurden, hat sich die Türkei von einem parlamentarischen hin zu einem autokratischen System entwickelt. Politikwissenschaftler*innen sprechen von einem elektoralen Autoritarismus: Es wird zwar de facto noch gewählt, aber die Macht liegt fast ausschließlich beim Präsidenten. Die Justiz ist politisch kontrolliert. Die Medien gleichgeschaltet. Die Opposition kriminalisiert. Viele Menschen sehen in den kommenden Wahlen die vielleicht letzte Chance, den kompletten autoritären Umbau des Landes zu verhindern – und gehen deshalb unermüdlich auf die Straße.

Repression von oben – Widerstand von unten

Innerhalb weniger Tage wuchs die Protestbewegung, vor allem in Istanbul, Ankara und Diyarbakır, aber auch in anderen Städten. Neben Anhänger*innen der CHP beteiligen sich Studierende, feministische Gruppen, kurdische Organisationen, die linke TİP, Gewerkschaften, Künstler*innen, Intellektuelle – in den letzten Wochen auch zunehmend Schüler*innen. Selbst Abspaltungen der rechtsnationalistischen MHP und konservative sowie andere rechtsnationalistische Dissident*innen schließen sich an. Es sind die größten und gesellschaftlich breitesten Proteste in der Türkei seit Gezi 2013. Was sie eint, ist die Ablehnung eines Staates, der mit Polizei, Justiz und Medien jede Form von Kritik unterdrückt. Wasserwerfer, Tränengas, Plastikgeschosse, brutale Übergriffe durch die (Zivil-)Polizei und Massenverhaftungen gehören längst zur repressiven Normalität. Doch der Widerstand wächst – mutiger, breiter, solidarischer.

Parallel zur politischen Krise verschärft sich die wirtschaftliche. Die Inflation liegt offiziell bei über 67 Prozent. Die Preise für die Grundversorgung explodieren, Millionen verarmen. Die Regierung begegnet der Unzufriedenheit mit Nationalismus, Polizeigewalt und politischen Ablenkungsmanövern – doch der soziale Sprengstoff ist nicht mehr zu übersehen.

Waffen, Deals, Schweigen – Europas Bündnis mit dem Autokraten

Erdoğans Strategie geht auch deshalb auf, weil die Türkei international gut eingebunden ist. Als NATO-Mitglied mit der zweitgrößten Armee, als Grenz“schützerin“ Europas, als „Frie-dens“vermittlerin im Ukraine-Krieg und als „Verteidigerin“ Palästinas sichert Erdoğan der Türkei außenpolitischen Rückhalt – oder zumindest Tatenlosigkeit. Auch aus Berlin.

Die Reaktion der Bundesregierung auf die Verhaftung İmamoğlus fiel halbherzig aus. Olaf Scholz nannte Erdoğans Machtmissbrauch ein „sehr, sehr schlechtes Zeichen, [das] bedrückend für die Demokratie in der Türkei, aber ganz bestimmt auch bedrückend für das Verhältnis zwischen Europa und der Türkei“ sei. Regierungssprecher Steffen Hebestreit zeigte sich besorgt, forderte aber bewusst nicht die Freilassung İmamoğlus. Scharfe Kritik oder gar praktische Konsequenzen hat Erdoğan offensichtlich nicht zu befürchten. Einzig Die Linke positionierte sich klar und forderte einen sofortigen Stopp aller Rüstungsexporte. Co-Parteichef Jan van Aken bezeichnete Erdoğan als das, was er ist: ein Autokrat.

Deutschland ist nicht neutral. Es profitiert vom EU-Türkei-Deal, von der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit, von den Wirtschaftsbeziehungen. Während hier kurdische und oppositionelle Aktivist*innen kriminalisiert oder abgeschoben werden, laufen Waffenlieferungen und Polizeikooperationen ungestört weiter. Das Schweigen ist kein Versäumnis – es ist politisches Kalkül.

Schluss mit dem Schweigen – Zeit zu handeln

Jetzt gilt es, dieses Schweigen zu durchbrechen – nicht mit Appellen, sondern mit Druck: politisch, öffentlich, konkret. Die Proteste in Düsseldorf und anderswo zeigen, dass Solidarität kein moralisches Feigenblatt ist, sondern eine politische Notwendigkeit. Auch weil autoritäre Regime voneinander lernen – und Schweigen ihre Macht stabilisiert.

Die Türkei steht exemplarisch für einen globalen Rollback: Demokratieabbau, Repression, soziale Verelendung. Doch gleichzeitig formieren sich weltweit neue Bewegungen, die sich dagegen wehren. Der Kampf für Freiheit, Gerechtigkeit und Teilhabe ist international. Solidarität mit den Protesten in der Türkei heißt: Kämpfe verbinden. Gegen Rassismus, Nationalismus, Patriarchat und Kapitalismus – hier und anderswo. Für eine Welt, in der Wahlen zählen, Bildungsabschlüsse nicht als Waffe missbraucht werden und Protest kein Verbrechen ist. Eine Welt, in der Solidarität keine Ausnahme, sondern Selbstverständnis ist.

Auch wenn Erdoğan, der in Umfragen derzeit so unbeliebt ist wie zuletzt 2015, das wohl hoffen mag: Die Proteste in der Türkei werden nicht einfach einschlafen und auch in NRW wird es weitere geben. Infos dazu gibt es u.a. auf dem Instagramaccount von TİP Almanya

V.