Blau Berauscht

Auch in 2025 schafften wir es wieder, mehrere Veranstaltungen des Blaues Rauschen Festivals zu besuchen und aufs Neue waren wir begeistert. So begeistert, dass wir erneut darüber berichten möchten, um euch einen Eindruck zu vermitteln. Wie in den Jahren zuvor fand das Festival über zwei Wochen lang, vom 23.05. bis zum 07.06.25, in den verschiedensten Lokalitäten im Ruhrgebiet statt. 14 Austragungsorte in 8 Städten wurden bespielt. Altbekannte Venues wie das Rabbit Hole Theater und die Neue Musik Zentrale oder das Szene 10 (alle drei in Essen) und für uns neue Spielstätten wie das Makroscope (Mülheim an der Ruhr) oder das Domicil (Dortmund) lockten uns in andere Städte. Verlockend klangen auch das Lokal Harmonie (Duisburg) oder die Abschlussveranstaltung im RWE Pavillon – Philharmonie (Essen) und viele mehr. Aber Veranstaltungen und Termine in Düsseldorf oder einfach nur krankheitsbedingte Ausfälle ließen uns nicht so oft blau berauscht sein, wie wir wollten. Andere Festivalbesucher*innen haben einfach zwei Wochen Urlaub genommen und sind dem Festival hinterhergereist. Unser Gedanke dazu: Super! Perfekt wäre, eine Veranstaltung zu besuchen, in der jeweiligen Stadt zu übernachten, am nächsten Tag z. B. von Essen nach Mülheim zu reisen, die nächste Veranstaltung besuchen …

Ein Festivalkatalog stellte mit ausführlichen Berichten alle Künstler*innen, Konzertlocations und die Konzepte des jeweiligen Abends vor. Eines möchten Mrs. Cave und ich besonders im Vorfeld anmerken: die Diversität mit der das BR so selbstverständlich aufgestellt war, da können sich andere Festivalveranstalter*innen mal eine Scheibe von abschneiden!

Souverän ging das das BR-Team auch mit anstehenden Schwierigkeiten um: familienbedingte Ausfälle, keine rechtzeitig erstellten Visa oder andere Widrigkeiten mussten gemeistert werden. Dazu aber mehr im Festivalrückblick.

Am Eröffnungsabend am 23.05.25 im Szene 10, Essen traten das Duo Wechselstrom, Pamela Z und Hüma Utko auf. Die Niederländerin Nadia Struiwigh fiel leider familienbedingt aus. Das Wiener Duo Wechselstrom (Renate Pittroff & Christoph Theiler) arbeitet mit Festplatten, Magnettonbändern, Floppy Disks und Schallplatten, um Töne zu erzeugen. Außerdem hatte Renate Pittroff zwei an elektrischen Strom angeschlossene Metallplatten auf ein Blatt Papier gelegt und diese dann mit graphithaltiger Tinte verbunden, das Blatt weiter bemalt und so Töne erzeugt. Dieser Vorgang wurde per Kamera auf eine Leinwand projiziert, und so nahmen wir auch visuell an der Erzeugung der Töne teil.
Pamela Z aus San Francisco, die zahlreiche Kunstfelder beackert und als Pionierin des Live-Loopings gilt, verweilte gerade in Berlin und war kurzfristig für den Eröffnungsabend gebucht worden, denn sie stand schon länger auf der Wunschliste des Veranstalters open systems e. V. Eine beeindruckende Performance aus Stimme und Bewegung erwartete uns, arbeitet sie doch mit gestenbasierten MIDI-Controllern wie dem BodySynth und Elektrodensensoren, die sie am Körper trägt. Mit diesen erzeugt sie mittels Muskel- und Körpergesten Klänge und manipuliert diese. Eine Persönlichkeit, die sich trotz aller Perfektion mit sehr viel Selbstironie und sichtlicher Freude an ihrem Tun präsentierte.
Den Abschuss machte die türkischstämmige Berlinerin Hüma Utku. Die Komponistin verwendet Feldaufnahmen, akustische Instrumente, Buchla-Synthese[1] und atmosphärische Elektronik. All das verdichtet sie zu nebligen, mikrotonalen Klangcollagen die einen gewaltigen Wall Of Drone erzeugten. Ihre letzten beiden Alben (The Psychologist, 2022 & Dracones, 2025) sind bei dem Wiener Label Editions Mego erschienen, für Fans des Sounds als Hinweis.

Eine Woche später, Freitag den 30. Mai, beehrten wir wieder einmal das Rabbit Hole Theater und die Neue Musik Zentrale. Die beiden ehemaligen Ladenlokale am Rande der Essener Innenstadt lassen wehmütige Erinnerungen an Die Brause oder den Damen Und Herren Salon aufkommen. Off-Kultur, wie wir sie immer mehr in Düsseldorf vermissen!
Den Auftakt machten im Rabbit Hole MahaVoice aus dem Iran. Dem Duo, bestehend aus Ali Pourmotamedi und Laleh Hamzeh, war es leider nicht möglich, persönlich in Essen aufzutreten. Die nötigen Visa wurden zwar frühzeitig beantragt, aber nicht erteilt. Um trotzdem am Blaues Rauschen teilnehmen zu können, hatten MahaVoice ihr Set in einem Hinterhof ca. 40 km von Teheran entfernt eingespielt, um diese Files dann im Netz bereitzustellen. Selbstgebaute Synthesizer, Sitar-Klänge, rhythmische, pulsierende aufeinander aufgebaute Beats mit Krautrock-Einflüssen. Dazu eine Video-Performance, die uns vergessen ließ, dass wir gerade aus der Konserve bedient wurden. Dem per Telegram zugeschalteten Duo wurde auch üppig applaudiert, und wir hoffen, dass die Performance für Laleh und Ali keine weiterreichenden Konsequenzen hat. Von der Ausweitung des Nahost-Krieges auf den Iran ganz zu schweigen …

In der NMZ ging es dann weiter. Hany Tea, ein*e interdisziplinäre*r Künstler*in und Amuleto Manuela, Klangkünstlerin, DJ und Kulturarbeiterin, beide in Berlin wohnhaft, arbeiten mit Field Recordings, Spoken Word und improvisierten Elementen auf digitalen und akustischen Instrumenten. Die Live-Performance When I Cover My Ears vereinte verschiedene Klanglandschaften und -welten.

Im Rabbit Hole Theater beendete dann die in Mailand lebende, argentinische Künstlerin Yamila den Abend. Hochschwanger, es war ihr letzter Auftritt vor der Niederkunft, bot uns Yamila eine stimmgewaltige Darbietung, zu der sie Cello spielte, untermalt mit digitalen Rauschen. Ihr aktuelles Album Visions ist inspiriert von den Mystikerinnen Hildegard von Bingen, Santa Teresa De Avila, Hadewijch und allen Frauen, die sich trotz des ihnen entgegengebrachten Widerstands nicht von ihren Visionen abbringen ließen. Visions wird über Morr Musik aus Berlin vertrieben, und wer Lust auf neue transzendente mythische Wege hat, sollte die Reise mit Visions antreten.

Weiter ging es am Samstag, den 31.05. im Makroscope, einem soziokulturellen Kunst- und Kulturzentrum in Mülheim an der Ruhr. Das Zentrum für Kunst und Technik beherbergt das Museum für Fotokopie, Räume für das Shiny Toys Festival, das Plattenlabel Ana Ott und vieles mehr. Ein toller Ort, dessen Besuch sich auf jeden Fall lohnt!
Den Anfang machte die Sizilianerin Fran­cesca Guccione. In ihrer Performance, einer Suite aus Violine, Synthesizer und Audiosamples, kombinierte sie klassische Musik mit experimentellen Ansätzen und elektronischen Klängen. Das 2024 veröffentlichte Album The Geometry Of Time hatte sie leider nicht dabei und ist auch nicht bei Bandcamp (BC) zur Verfügung gestellt. Es gibt bei YouTube aber den Song The Geometry Of Time als Appetizer.

Dann sollte eigentlich Yana Selezneva aus Georgien ein DJ-Set spielen, aber leider gab es auch hier Visaprobleme. Stattdessen traten Carmen Jaci, eine französisch-kanadischen Produzentin experimenteller Musik und Matthew Schoen, ein kanadischer 3D-Künstler und Motion-Designer auf. Beide leben gerade in den Niederlanden, und das hat sich in ihrer Performance widergespiegelt. Technoide Beats, die an Rotterdam Gabber erinnerten, dazu wilde und kantige Visuals. Bei der halbstündigen Achterbahnfahrt fingen die ersten Besucher*innen in den letzten Reihen auch schon an zu wippen.

Den Abend im Makroscope beendeten Midori Hirano, geboren in Kyoto und in Berlin lebend und Kaliber16 aka Markus Wambsganss. Die Musikerin, Komponistin und Produzentin Hirano verbindet akustische Streichinstrumente und Klavier mit elektronischen Prozessen und Field Recordings. Sie schafft Klanglandschaften, die uns als Fans von Miki Yui und Stefan Schneider sofort begeistert haben. Statt Klavier hat sie beim Blaues Rauschen mit einem Synthesizer gearbeitet, wie sie dieses auch unter ihrem Alias MimiCof tut. Der Filmemacher Kaliber16 hat dazu die Live Visuals geliefert: „Ein orchestriertes Flirren zwischen Konstruktion und Zerfall“.

Eine Woche später besuchten wir das Domicil, einen traditionsreichen Jazzclub in der Dortmunder Innenstadt. Gute Cocktails und eine einzigartige Atmosphäre erwarteten uns. Den Abend eröffnete bildende Künstlerin Pod Blotz aka Susy Polling aus den USA. Audiovisuelle Experimente, gepaart mit Avantgarde Futurism, IDM, Experimental oder Abstract Techno sind ihr Markenzeichen. Ihre Performance in Dortmund erinnerte an sich ineinander verhakende Aliententakel, die sich gegenseitig immer weiter in ein Schwarzes Loch im Weltall ziehen. Die Visuals wurden mit einem harten rhythmischen technoiden Beat unterlegt, der eine düstere, emotionale Klangwelt produzierte.

Panic Girl aus München, aka Martha Bar, lud uns mit ihrer Darbietung Basalt Echos auf eine elektronische Klangreise zwischen Modularsynthesizer und aus Holz gefertigten Samples ein. Die Soundinstallation war vulkanischem Gestein gewidmet; Zufall und randomisierte Prozesse (Stochastik und Aleatorik[2]) machten das Set zu einer einmaligen Sache. Martha Bar betreibt in München das Label i u we records, ein Besuch der Bandcamp-Seite ist absolut empfehlenswert. i u we records fokussiert sich laut eigener Aussage auf die Schönheit und Diversität in Female Music.

Dann begrüßte die Engländerin Kaffee Matthews die Besucher*innen im Domicil. In ihrer Rede an das Publikum erinnerte sie uns daran, wie gut wir es doch im Gegensatz zum Rest der Welt gerade haben: Wir sitzen an einem Freitagabend trocken und warm mit gekühlten Drinks in einer Bar und sollten uns dessen bewusst und dankbar sein: „Let’s open our hearts!“ Nach diesem fast hippieeskem Auftritt überraschte sie mit einem regelrecht brutalen Sound. Kaffee Matthews gilt als Pionierin der interaktiven Klangkunst, und das hat sie im Domicil auch bestätigt. Tieffrequente Wellen, Field Recordings und abstrakte Drones, deren Frequenzen nicht nur hörbar, sondern auch spürbar waren. Wir waren froh, Ohrpöppels dabei gehabt zu haben, teilweise rumpelte es im Magen wie bei Konzerten von Sunn O))).
Die Abschlussveranstaltung am Samstag den 07.06. im RWE Pavillon (Philharmonie, Essen) konnten wir dann krankheitsbedingt leider nicht besuchen, aber im nächsten Jahr sind wir wieder dabei!
An dieser Stelle vielen Dank an Etta Gerdes, den open systems e.V. und das Blaues Rauschen Festival für die tollen Setfotografien. Alle Blaues Rauschen Festival Fotos Copyright Etta Gerdes 2025.

Knappe zwei Wochen später verschlug es uns nach langer Zeit mal wieder zu einem musikalischen Gegenentwurf ins AZ Aachen. Dort spielten drei „Black Metal“-Bands in den feuchten, muffigen Kellern des Autonomen Zentrums. Vom ersten Act, Moo)))n aus Aachen, hörten wir leider nur noch einen halben, aber sehr vielversprechenden Track. Bei der Referenz im Namenslogo ersparen sich hoffentlich alle weiteren Erklärungen. Als Hinweis: Maybe-Sunn O)))-maybe-not steht auf der Bandcamp-Seite.

Die Post-Black-Metaller Räum aus Lüttich hatten ihr aktuelles Album Emperor Of The Sun vom Februar diesen Jahres im Gepäck. Wieder einmal bestätigt sich, dass Belgien ein unergründlicher Pool an Crust-Punk, HC, Post-Rock & Metal und „Black Metal“-Bands jedweder Form ist, die live und auch auf Tonträger überzeugen können. Die supernetten Räum sind auch schon für den Herbst oder Winter in Düsseldorf im LZ angedacht. Emperor Of The Sun ist auf dem französischen Label Les Acteurs De L‘Ombre Productions veröffentlicht worden und über die Räum-BC-Seite digital und auch physisch erhältlich.

Den Abend beendeten dann Thantifaxath, Avantgarde-„Black Metal“ aus Toronto. Wir dachten ja, dass Räum den Endbereich in der Skala der Lautstärke schon erreicht hatten, wurden aber von Thantifaxath eines Besseren belehrt. Ein infernalisches Massaker aus Lärm, harschen Gitarrenriffs, abenteuerlichen Rhythmuswechseln sowie bizarren Outfits beherrschten die kleine AZ-Bühne und verliehen der Szenerie etwas ungewollt Groteskes, wie in einem Film von David Lynch oder Ryan Goslings „Lost River“. Die Band, vorher noch in Shorts, Tank-Tops und barfuß! im AZ unterwegs, hatte sich als Bühnenoutfit zusätzlich in schwarze ausgefranste Bettlaken gehüllt. Dazu im Publikum barfüßige Ausdruckstänzer*innen, auch in Shorts und Tank-Tops, die mit ihren Moves den Hallenboden aufwischten. Ein grandioser Abend! Die Releases des US-amerikanischen Labels Dark Descent Records sind in Europa leider schwer erhältlich. Das 2023er Album Hive Mind Narcosis ist aber bei Bandcamp digital verfügbar!
Für das Foto von Thantifaxath im AZ Aachen[3] bedanken wir uns bei Heike Leppkes, die eine hervorragende Seite mit Konzertfotos betreibt. Thantifaxath Live Foto AZ Aachen 19.06.25, Copyright Heike Leppkes 2025.

Schon seit Anfang Mai ist das Tape Forming Haze [Recordings 1985/86] von The Crippled Flower erhältlich. The Crippled Flower waren eine Post-Punk/New Wave-Band aus Düsseldorf. Den Sänger Philip Elston hatte seine Liebe zu Kraftwerk aus England nach Düsseldorf verschlagen. Nina Ahlers, Stefan Krausen, Jochem Simons, Heinz-Adolf Tack und Stefan Schneider waren weitere Mitglieder. Stefan Schneider hat dieses Kleinod der Düsseldorfer Musikgeschichte auf seinem Label TAL veröffentlicht und so eine weitere Lücke in der musikalischen Vergangenheit Düsseldorfs geschlossen.
Wire, Felt, Scritti Politti oder Minimal Compact werden als Referenzen genannt.

Das Tape ist limitiert auf 100 Exemplare, aber noch bei Bandcamp erhältlich, auch digital. Den Abschluss macht auch dieses Mal unser Freund YürkE. BluTape_session_4 ist am Freitag den 27.06.25 ebenfalls via Bandcamp veröffentlicht worden. Damit Tape 4 es noch in die Doppelsommerausgabe schafft, Reaktionsschluss war der 26.06.25, hat Stefan Jürke uns eine Vorabkopie zukommen lassen. Wieder gibt es zwei Tracks, SteilStyle und 1shot. Wir haben die BluTape_session_4 im Anschluss an die Forming Haze gehört und mussten die Lautstärke und den Bass sofort runterdrehen. Es klirrten die Scheiben, und die Altbauwände haben gebebt. Zwei langsame, dublastige, technoide Killertracks bilden den gelungen Abschluss der BluTape_session_Reihe!

Dieses Mal gibt es wieder Werbung in eigener Sache. Unter Keiner Flagge präsentiert am 02.08.25 im Linken Zentrum Schuetter, ehemalige Schwach-Mitglieder. Rotzigen Polit-Punk wird es geben, der Support ist noch offen.

Wir sehen uns, Mrs. Cave und der Oberbilker

[1]  Buchla Electronic Musical Instruments (BEMI) ist ein Hersteller von Synthesizermodulen.
[2]  Stochastik und Aleatorik sind verwandte, aber unterschiedliche Konzepte, die sich mit Zufall und Ungewissheit beschäftigen. Stochastik ist ein Teilgebiet der Mathematik, das sich mit der Analyse zufälliger Ereignisse und Prozesse befasst und Wahrscheinlichkeiten berechnet. Aleatorik hingegen ist ein gestalterisches Prinzip, das Zufall und Ungewissheit in Kunst, Musik und Literatur einbezieht, um unvorhersehbare Ergebnisse zu erzielen.
[3]  Das AZ Aachen ist ein ehemaliger unterirdischer Bunker, direkt am Aachener HBF gelegen. Idyllisch überbaut vom a&o Hostel Aachen Hauptbahnhof. Viele verwechseln das AZ Aachen immer mit dem Musikbunker-Aachen e.V., der am Rande des Frankenberger Parkes oberirdisch liegt.