TERZ 0708.25 – geschichtsstunde
Der 1996 verstorbene Rio Reiser wäre im Januar diesen Jahres 75 geworden. Sein Todestag am 20. August ist für die TERZ Anlass, einen Blick zurück auf diesen „Scherben“-Frontmann und sein Nachleben bzw. Nichtnachleben in den Medien zu werfen.
Als „König von Deutschland“ war Rio Reiser Everybody’s Darling. Als er aber 1990 in die PDS eintrat, spielten private und öffentlich-rechtliche Sender seine Hits nicht mehr. Die Verkaufszahlen stürzten ab, und sechs Jahre später starb er. Am 9. Januar diesen Jahres wäre Rio 75 geworden. Aus diesem Anlass ehrte ihn „radio eins“(rbb) alle zwei Stunden mit einem Song, und rbb brachte eine Doku. Berlin-Brandenburg feierte jedoch Rios Geburtstag weitaus weniger pompös als NRW den 100. des Filzhutträgers aus Oberkassel vor vier Jahren. Das zweite „Ton – Steine – Scherben“-Album „Keine Macht für Niemand“ kam 1972 in die Plattenläden, also in jenem Jahr, in dem Beuys eine 1,90 m hohe Lichtpause auf Polyesterfolie drucken und als Multiple verbreiten ließ: Im Zentrum und das Format füllend er selbst, Aufschrift: „La rivoluzione siamo noi“ – „Die Revolution sind wir“ (Beuys ist aber auf dem Poster ganz allein). Revolte lag in der Luft. Zweifellos fanden die „Scherben“ unter Linken auch in Düsseldorf mehr Resonanz als der 1972 von Minister Rau geschasste Akademieprofessor. In den 1970er und 1980er Jahren dröhnte der Rauch-Haus-Song überall aus besetzten Häusern (sowas gab’s sogar mal hier in Düsseldorf): „Der Senator war stinksauer, die CDU war schwer empört,/ dass die Typen sich jetzt nehmen, was ihnen sowieso gehört.“ Nach einem „Scherben“-Konzert hatten Dezember 1971 ca. 300 Personen das Georg-von-Rauch-Haus besetzt. So ist es auf Websites zur Berlin-Geschichte zu lesen. Unterschlagen wird (fast immer), dass zur Besetzung mit einem Flugblatt, unterzeichnet von der „Basisgruppe Kreuzberg Heim- und Lehrlingsarbeit“, aufgerufen wurde. Es ist das Verdienst der Doku „Rio in Berlin“(rbb, 43 min; in der ARD-Mediathek abrufbar), frühes Archivmaterial wieder ausgegraben zu haben. „Rio“ war kein Produkt der linksradikalen Szene. Der „Scherben“-Frontman und die Bandmitglieder Lanrue, Sichtermann und Seidel kamen aus der Theaterarbeit mit „Lehrlingen“, wie Auszubildende damals hießen. Rio (bürgerlicher Name: Ralph Möbius) war der jüngste der drei Möbius-Brüder. Der neun Jahre ältere Peter hatte im Mai 1965 in Nürnberg das „Hoffmann’s Comic Teater“ gegründet, das als Lehrlings-, Improvisations- und Mitspieltheater Schlagzeilen machte. Vorbild war Dario Fo. Zu siebt zogen sie mit Traktor, einem umgebauten Bauwagen und 30 selbstgefertigten Masken und Kostümen durchs Land. „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“ ist z. B. aus dem Stück „Peter und Paul“, und der Song wurde gespielt, nachdem Paul begriff, dass alles, was der Fernsehkommentator sagte, mit seiner Situation nichts zu tun hat. „Da hat er den Fernseher genommen und hat ihn kaputt geschlagen“, erläutert Rio. „An wen wenden sich denn Eure Lieder?“, will der Interviewer wissen. „An die Lehrlinge, an die Leute in unserem Alter und jünger, zwischen fünfzehn und zweiundzwanzig.“ Und „vor allem an die Lehrlinge, weniger an Schüler“, jedenfalls „nicht an die bereits Agitierten, an die Linken.
Die „Scherben“ gaben Gespräche wieder, wie sie „auf der Straße, in Kneipen oder am Arbeitsplatz real geführt wurden.“ Viele Songs verraten diesen Ursprung: „Mein Alter sagt, die Welt wird sich nicht ändern/dabei weiß er ganz genau, was läuft/Doch er glaubt, er vergisst die ganze Scheiße/wenn er abends in der Kneipe hängt und säuft.“ Rio schreit mehr als er singt, klingt oft wie ein „Lehrling“ mit ’ner Mordswut im Bauch: „Für mich heißt das Wort zum Sonntag ‚Scheiße’/und das Wort zum Montag ‚Mach mal blau’“ 1971 erklärten die „Scherben“ in der Berliner Zeitung: „Unsere Musik ist aggressiv, weil junge Menschen“ erst einmal „emotional bewegt werden“ müssen, denn sonst „würden sie uns ja nicht einmal zuhören.“
Die Songs fürs Lehrlingstheater stammten von Rio. Sein Bruder Gert wählte fürs Theater das Pseudonym „Giacomo Reiser“. Und als 1977 Rio die Hauptrolle im Film „Johnny West“ spielte, war dann im Abspann erstmals der Name „Rio Reiser“ zu lesen, den er dann sein Leben lang beibehielt. 1995 erläuterte er in einer NDR-Talkshow, sein Bruder habe sich einst nach „Anton Reiser“, einer Romanfigur von Karl Philipp Moritz aus dem 18. Jahrhundert, benannt. Jener Anton werde vom Vater in eine Lehre gesteckt, obwohl er selbst viel lieber Schauspieler werden würde. Zeitlebens leidet Anton unter seiner Umwelt, womit sich Rio bestens identifizieren konnte: „Anpassungsschwierigkeiten, die gibt es auch heute noch“, gestand er 1995 in jener NDR-Talkshow.
Von der Theaterarbeit mit Auszubildenden abgekoppelt, kam es Anfang der 70er Jahre mit der sich in Berlin sammelnden linken Blase rasch zu Konflikten. Von den „Scherben“ wurde stets erwartet, dass sie Solikonzerte geben. „Irgendjemand hier in diesem Raum soll mir einmal erklären“, echauffierte sich Rio vor laufender Kamera, „wie man bei einer Rockband die Technik besser machen soll, wie man die Sprache besser machen soll, wie man sich Produktionsmittel anschaffen soll ohne Geld […] Aber für Solidarität mit uns, für unsere finanzielle Solidarität – wer interessiert sich dafür?“ Als sie dann bei einem Solikonzert für die Schnittchen an der Theke auch noch einen „Solipreis“ abdrücken sollten, war der Ofen endgültig aus. Sie bauten die Anlage, die sie grade erst in den vierten Stock hochgeschleppt hatten, wieder ab. Bei der Vollversammlung am Folgetag beschlossen sie, ins nordfriesische Fresenhagen zu ziehen. Rios Solokarriere wurde schließlich zum (ökonomischen) Muss, um den Riesenschuldenberg, den die „Scherben“ hinterlassen hatten, abzutragen. Doch „König von Deutschland“ wollte er dann irgendwie doch nicht sein: Am 3. Oktober 1990, als sich alles im Nationaltaumel suhlte, setzte er sich an die Copacabana ab. Rio war das erste Mal in Rio.
Die taz brachte zum 75ten „Ein Ständchen für Rio“. Im Teaser hieß es: „Fast 30 Jahre ist der Sänger nun tot und immer noch besuchen ihn die Fans an seinem Grab in Berlin.“ Die Zwischenüberschriften: „Der heilige Gral“, „Verehrung hat was Religiöses“, schließlich: „Verschiedene Karrierestufen von Fans.“ Dieser Abschnitt beginnt: „Fan-Sein, das umfasst ein breites Spektrum. Der Soziologe Thomas Schmidt-Lux von der Universität Leipzig unterscheidet …“ Ich hab nicht weiter gelesen. Die implizite Botschaft ist hier: „Rio Reiser“ und die „Lehrlingsbewegung“ sind tot. Erinnerung daran sei religiöse Verklärung, Wiederauferstehung ausgeschlossen!
Im Januar nahm ak („analyse & kritik“, früher: „arbeiterkampf“) die rbb-Doku „Rio in Berlin“ aufs Korn. Die Doku zeige „gut montiertes Archivmaterial“ aus „der Gründerzeit der Band.“ Die „Revolte von 1968“ sei eben nicht nur „eine seminarmarxistische Diskussion unter Bürgerkids“ gewesen. Mit der Lehrlingsbewegung habe es mancherorts auch eine junge Bewegung gegeben, „die sich in proletarischer Selbstermächtigung versuchte.“ Doch alles in allem erhielt die rbb-Doku aber schlechte Noten: Rio werde „als ein Teil des kulturellen Inventars der Bundesrepublik“ verwurstet. Obwohl die Doku „auch Reisers kritischen Blick auf DDR, BRD und DDR-Anschluss“ zeige, greife der Regisseur daneben, heißt es da weiter, wenn er das Scherben-Lied mit der berühmten Zeile „dieses Land ist es nicht“ über die Bilder des Mauerfalls lege. Reiser werde so „zum Hilfs-Westernhagen“ degradiert.
Der rbb-Produktion ist zugutezuhalten, dass sie in einem Talkshow-Archivschnipsel die Zensurmechanismen des Westfernsehens anspricht: „So richtig verboten wart Ihr eigentlich nicht“, schneidet Elke Heidenreich das Thema an und plaudert aus dem öffentlich-rechtlichen Nähkästchen. Listen mit Liedern, die nicht gespielt werden durften, hätte es nicht gegeben, aber das seien „mehr Empfehlungen“ gewesen. „Das war ganz subtil.“ Da hieß es: „Also würd’ ich eigentlich nicht spielen an Deiner Stelle … Und das? Da kriegste Ärger.“ Und es habe viele freie Mitarbeiter gegeben, ergänzt Rio, die „irgendwelche Titel gespielt haben und gezwungen waren, dann eine Etage höher zu müssen, um sich zu rechtfertigen.“
Ein öffentlich-rechtlicher Sender, der hier Selbstkritik übt? Weit gefehlt. Das Ganze läuft heute nur noch subtiler. „Rio in Berlin“ thematisiert offen, dass „Scherben“-Songs einst von Sendern nicht gespielt wurden. Dass aber auch Songs des „König von Deutschland“ boykottiert wurden, nachdem Rio in die PDS eingetreten war, dazu kein Wort. Und dieses Muster zieht sich durch: Die Doku zeigt, wie Rio den Song „Der Traum ist aus“ beim Konzert am 30. Oktober 1992 in Weißensee, Ostberlin, anmoderiert: „Was ich jetzt spiele, ist uralt“, beginnt Rio. „Ich hab das Ding geschrieben – das muss so Anfang der 70er Jahre gewesen sein – da bin ich aufgewacht und dann ist mir das eingefallen.“ Das Merkwürdige an dem Lied sei, „dass das nicht älter wird … ganz komisch - - - wirklich!“ Rio spielt damit natürlich auf die Verszeile „dieses Land ist es nicht“ an. 1988, bei Rios erstem Auftritt in Ostberlin, hieß dieses Land noch DDR, nun aber BRD. Und jetzt grölte das Publikum diese Verszeile noch lauter mit (der komplette „Der Traum ist aus“-Mitschnitt vom 30. Oktober 1992 findet sich auf Youtube). Dass das Lied nicht älter würde, war zudem eine Anspielung auf die Verszeilen: „Ich hab geträumt,/ Der Krieg ist vorbei“(die vom rbb übrigens nicht gesendet wurden). 1972 hatte sich dies auf den von den USA vom Zaun gebrochenen und damals bereits ins zweite Jahrzehnt gehenden Vietnamkrieg bezogen, 1992 auf den im Jahr zuvor angezettelten Zweiten Golfkrieg der USA und weiterer Nationen gegen den Irak. Möglicherweise haben die Macher von „Rio in Berlin“ hier vorab den kollegialen Rat bekommen: „Also würd’ ich eigentlich nicht senden an Deiner Stelle … Da kriegste Ärger.“ Oder hatte hier einfach nur „der innere Zensor“ zugeschlagen? Was wir in den Köpfen tragen, ist durch Medienmache stets manipuliert. Denn warum gilt allgemein Udo Lindenberg als Begründer des Deutschrock und nicht „Ton – Steine – Scherben“? Ist der larmoyante Udo einfach gesellschaftlich besser integrierbar als die stets zur direkten Aktion aufrufenden „Scherben“? Und warum müssen wir erst lange nach einem Hinweis, dass zur Besetzung des Rauch-Hauses die „Basisgruppe Kreuzberg Heim- und Lehrlingsarbeit“ aufgerufen hatte, suchen? Soll hier totgeschwiegen werden, dass es einmal Ansätze zu proletarischer Selbstermächtigung gab? Übrigens: 1972, als „Keine Macht für Niemand“ erschien, kam auch die im Arbeitermillieu spielende Familienserie „Acht Stunden sind kein Tag“ in die heimischen Wohnzimmer. Trotz Spitzeneinschaltquoten war nach nur fünf Folgen Schluss. Drei weitere Folgen waren geplant, die Schauspieler*innen bereits unter Vertrag, als der WDR plötzlich das Aus verfügte. Das Drehbuch dieser ARD-Serie stammte von Rainer Werner Fassbinder, der auch Regie führte. 1972 war das Jahr des Radikalenerlasses und zunehmender staatlicher Repression. Hatte der damals als „Rotfunk“ verschriene WDR kalte Füße bekommen? Fassbinder zumindest sprach offen von Zensur. Im Fassbinder-Oeuvre läuft die Serie heute aber nur unter „ferner liefen“. Eine ganz andere Bewertung nahm Meagan Day vor. Meagan’s lesenswerter Beitrag ist unter jacobin.com ins Netz gestellt.
Thomas Giese
— „Das ist unser Haus. Protokoll einer Hausbesetzung“. WDR 1971 im Netz abrufbar
— „Rio in Berlin“ (rbb, 43 min; 2025 ARD-Mediathek)
— Rio Reiser in der NDR-Talkshow (1995; im Netz auffindbar)
— Meagan Day: „Fassbinder and the Red Army Faction“ (jacobin.com)