Lost And Found!

Teil II

10.000 Zeichen sind schnell voll, und so sind ein paar empfehlenswerte „Lost And Found“-Releases im letzten Monat leider aus der Doppelseite herausgefallen.

Fangen wir an mit Basement Beehive: The Girl Group Underground. 2018 auf Numero Group erschienen, widmet sich diese Zusammenstellung dem Girl-Underground-Pop der 60er Jahre in den USA. 30 vergessene Tracks (56 auf CD) werden uns hier auf einer Doppel-LP präsentiert. Dickes Tip-On Gatefold* sowie ein 20-seitiges, 12 Inch großes Booklet mit Liner-Notes von Jessica Hopper**, Original-Covern und ausführlichen Reviews*** zu den vertretenen Acts runden die Doppel-LP ab. Wer The Supremes, The Shangri-Las, The Ronettes oder The Crystals mag und auch sonst Interesse an 60er Jahre Soul, Surf, Beat, Garage Rock etc. hat, sollte sich auf jeden Fall mit Basement Beehive: The Girl Group Underground beschäftigen. Auf der Bandcamp-Seite sind alle 56 Titel gelistet, dem kompletten Hörgenuss steht somit nichts im Weg. Viel Spaß beim Entdecken von The Passionetts, The Devilettes, The Vandelettes, Paulette & The Cupids, Bernadette Carroll und all den anderen „Sister acts, studio receptionists, classmates, angelic voices of the 1960s“.

1987 erschien das erste und einzige Studioalbum The Daydreams Of A Production Line Worker der englischen Anarcho-Punk-Band Karma Sutra aus Luton. Damals auf Paradoxical Records veröffentlicht, dem eigenen Label von Karma Sutra, hat das UK-Reissue-Label Sealed Records The Daydreams … originalgetreu im Mai diesen Jahres wiederveröffentlicht. Sogar das 28-seitige Booklet ist nachgedruckt worden. Karma Sutra existierten 1987 bereits seit 5 Jahren, hatten aber nur zwei Tapes und verschiedene Compilation-Beiträge veröffentlicht. Diese sind 2021 auf der Zusammenfassung Be Cruel With Your Past And All Who Seek To Keep You There auch auf Sealed Records veröffentlicht worden. Schon wieder eine Lücke in der Sammlung … Mehr oder weniger am Ende des musikalischen Schaffensweges beschloss Karma Sutra, ins Studio zu gehen und ein Album aufzunehmen. Die politische Situation 1987 in England mit der dritten Wiederwahl von Margaret „Maggie“ Thatcher und einer – um 21 Sitze abgeschmolzenen – absoluten Mehrheit der Konservativen prägten die musikalische Stimmung im Studio und auf der Straße.

Der UK Decay Gitarrist Spon (Steve Spon), langjähriger Live-Gig-Begleiter, trug im Studio als Mixer und Produzent zusätzlich zur düsteren Atmosphäre des Albums bei. Allen Liebhaber*innen des englischen Anarcho-Punks, die auf Crass, The Mob, Zounds usw. stehen, können wir Karma Sutra bedingungslos empfehlen. Das Album ist auch bei Bandcamp hochgeladen und somit digital in einer sehr guten Qualität erhältlich. Nur fürs Protokoll: Karma Sutra waren Dave Commodity, Graeme Hall, John Dickie, John Shannon, Lil Soper, Mark Pratten, Neil Forder und Nick Stewart.

Zwei Entdeckungen vom zakk-Straßenfest 2025 möchten wir euch auch nicht vorenthalten. Jürgen „Jay Kay“ Krause hatte in seinen Plattenkisten zwei Schätzchen versteckt. Das zweite June Of 44-Album Tropics And Meridians, 1996 auf Quarterstick Records erschienen, einem Unterlabel von Touch And Go, beide in Chicago beheimatet. Schon alleine durch das Artwork angesprochen blieb die LP an meinen Händen kleben. Der zusätzliche Hinweis auf der Rückseite, das Tropics And Meridians damals von Bob Weston (Shellac) aufgenommen und gemischt worden ist, war ein weiterer Kaufanreiz. Selbst die damals beiliegenden „June Of 44“-Briefmarken sind noch vorhanden!

Sammler*innenherz, was willst Du mehr! Wie nicht anders zu erwarten bei dem Label, spielen Doug Scharin, Fred Erskine, Jeff Mueller und Sean Meadows frickeligen Post-Hardcore und Math-Rock, verschroben, intensiv und auf den Punkt genau. Die Einflüsse von Bob Weston als Engineer sind auch herauszuhören. Wieder einmal fragt mensch sich, warum dieses großartige Album damals an uns vorbeigegangen und erst jetzt entdeckt wird. 1999 veröffentlichten June Of 44 mit Anahata ihr viertes Album und lösten sich dann 2000 auf. 2018 reformierte sich die Band und veröffentlichte 2020 das Album Revisionist: Adaptations And Future Histories In The Time Of Love And Survival auf Broken Clover Records, Kalifornien. Seitdem ist es wieder ruhiger geworden um June Of 44 und weitere Lebenszeichen gibt es nicht. Der Name der Band bezieht sich übrigens auf die Zeit, in der die Schriftsteller Anaïs Nin und Henry Miller**** miteinander korrespondierten. Alle 5 Alben sowie die erste EP sind bei Bandcamp gelistet.

Die andere Neudeckung beim zakk-Straßenfest waren Skullflower. Die Impro-Noiserock-Band hat sich 1987 in London gegründet und seitdem ca. 55 Alben und 23 EP’s / Singles veröffentlicht. Die erste EP Birthdeath, 1988 auf dem UK-Label Broken Flag erschienen, stand auch in einer der Plattenkisten und entpuppte sich auf dem heimischen Plattenteller als absolute Noiserock-Fräse. Eine dröhnende Orgie an Lärm, Fuzz, Krach, unterlegt mit einem stetigen, monotonen Beat, ab und zu gepaart mit verschwörerisch-hypnotischem Geschrei, das an eine religiöse Zeremonie erinnert. Die vier Songs graben sich unerbittlich in die Gehörgänge, verankern sich betäubend in den Hirnwindungen und lassen dich nicht mehr los. Nach der Veröffentlichung des 1996er Albums This Is... lösten sich Skullflower im gleichen Jahr auf. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Gitarrist Matthew Bower und Schlagzeuger Stuart Dennison die einzigen kontinuierlichen Mitglieder, die an allen Veröffentlichungen mitgewirkt hatten. Im Jahr 2003 meldete sich Skullflower mit Exquisite Fucking Boredom zurück. Mitunter als Soloprojekt von Matthew Bower, zeitweise mit Unterstützung von weiteren Musiker*innen. Auch Skullflower verfügen über eine ausführliche Bandcamp-Seite, auf der es sich lohnt, länger zu verweilen.

Aktuell bezaubert uns das dritte YASS-Album Feel Safe. Erschienen im Juni dieses Jahres auf Crazysane Records, legen die beiden Schwarzwälder Markus Brengartner und Frank Otto, beide vormals Kurt, Maulgruppe & Ten Volt Shock, dermaßen einen vor, dass uns die Spucke wegbleibt. Wahnsinnig druckvoll, energiegeladen, auf der einen Seite roh, wild und unberechenbar und andererseits auf den Punkt genau, mit Präzision, wie eine Schwarzwälder Kuckucksuhr, spielen Markus Brengartner und Frank Otto einen Mix aus Neo-Kraut und Post-Punk. Elektronics, Gitarre, Gesang und Schlagzeug verweben sich zu einem Geflecht aus acht durchdringenden, fesselnden und trotzdem aufwühlenden Stücken, die Feel Safe zu einem komplexen Gesamtkunstwerk machen. Wir können deswegen auch kein einzelndes Stück hervorheben. Alle drei Alben von YASS sind bei Bandcamp gelistet, in die ersten beiden Alben Things That Might Have Been (2016) sowie Night Wire (2017) wird auf jeden Fall noch digital reingehört!

Das schwedische Pop-Duo Sally Shapiro besteht aus dem Musiker, Produzenten und Songwriter Johan Agebjörn sowie einer anonymen Sängerin, die den Namen Sally Shapiro als Pseudonym verwendet. Ready To Live A Lie ist das fünfte Album des Duos und das zweite in Folge, welches auf dem kalifornischen Label Italians Do It Better veröffentlicht wurde. Zwar schon im Mai diesen Jahres erschienen, ist es aber nie zu spät, sich mit guter Pop- und Disco-Music aus Lund, Schweden, zu beschäftigen. Wie auch schon beim 2022er Album Sad Cities, hat „Italians Do It Better“-Labelinhaber Johnny Jewel***** aka John David Padgett den Mix übernommen und das Artwork mitgestaltet. In der US-amerikanischen Presse wurde Ready To Live A Lie als das düsterste Album von Sally Shapiro bezeichnet. Die Sängerin verarbeitet ihren eigenen Kampf mit persönlichen Problemen im Zusammenhang mit Beziehungen und Einsamkeit. Wie sie verletzt wurde, welche Lügen sie ertragen musste oder selbst erzählt hat, um weiterzumachen. Dass die Pet Shop Boys mit Rent auf diesem Album gecovert werden, ergibt dann auch zusätzlichen Sinn[6]. Die grundlegende Melancholie wird von den typisch cleanen Electro-Beats und reinstem Pop kaschiert. Der perfekte Soundtrack, um nach den letzten warmen Spätsommertagen schwermütig in den Herbst überzugehen!

Das war es dann für diesen Monat, bis November, Mrs. Cave und der Oberbilker

[1]  Tip-On-Gatefold – das Klappcover besteht aus dickem Karton und ist mit dem bedruckten Papier beklebt. Die umgeleimten Klebenähte sind sicht- und fühlbar. Das gesamte Cover sieht dadurch handwerklich sehr hochwertig aus und ist deswegen bei Sammler*innen sehr beliebt. Oft sind gerade Erstpressungen so gestaltet und deswegen gesucht.
[2]  US-amerikanische Musikjournalistin, die in jungen Jahren mit dem Schreiben begann, weil sie mit einer Kritik an den Babes In Toyland nicht einverstanden war und das Gefühl hatte, dass diese missverstanden worden waren. Unter anderem schrieb sie auch für den Chicago Tribune, The Chicago Reader, Spin und viele Magazine mehr.
[3]  Dave Brown, Erin Osmon, Ryan Boyle, Blake Rhein, Ali Najdi und Jon Kirby sind alles Autor*innen und Musiker*innen, die schon an anderen „Numero Group“-Veröffentlichungen mitgearbeitet haben.
[4]  Anaïs Nin (Angela Anaïs Juana Antolina Rosa Edelmira Nin y Culmell) (21. Februar 1903 – 14. Januar 1977) war eine in Frankreich geborene, US- amerikanische Tagebuchschreiberin, Essayistin, Romanautorin und Autorin von – oft erotisch geprägten – Kurzgeschichten und Romanen. // Henry Miller (Henry Valentine Miller) (26. Dezember 1891 – 7. Juni 1980) war ein amerikanischer Autor von Romanen, Kurzgeschichten und Essays
[5]  Johnny Jewel ist bei den „Italians Do It Better“-Acts Glass Candy, Chromatics, Desire und Symmetry selber als Musiker und Songschreiber tätig. Außerdem hat er schon diverse Soundtracks mitkomponiert, wie zum Beispiel von Drive (2011) und Lost River (2015)
[6]  Anzumerken ist, dass sich seit mehreren Jahren auf fast jeder “Italians Do It Better“-Veröffentlichung – Künstler*innen und auch Genre-unabhängig – interessante Coverstücke befinden.