TERZ 11.25 – MUSIC
Unser diesjähriger Jahresurlaub verschlug uns nach England – Mrs. Cave, als gelernte Handstickerin, ist ja Hangaround der deutschen Stickgilde und diese organisierte die Tour „Back To The Roots“. England gilt als das Heimatland der Stickkunst und vieler textiler Schauplätze, als da wären: die Textilindustrie in Manchester und der Sitz der Royal School of Needlework[1] in London. Nach bestandener Gesellinnenprüfung durfte der Oberbilker an dieser Tour teilnehmen. Lockten doch auch die britischen Recordstores (-:
Die Reise startete in Rotterdam, und es ging bei, zum Glück sehr ruhiger See, mit der Fähre nach Hull. Die zwei Stunden Aufenthalt in Rotterdam reichten für ein erstes Urlaubsbier sowie den Besuch eines ersten Plattenladens. Strategisch günstig in der Innenstadt liegt Velvet Records. Ein kleiner Laden mit Neuware, in dem ich ein Repress der vierten Minor Threat-Single Salad Days entdeckte. 1985 original auf dem amerikanischen Label Dischord Records (Washington DC) erschienen, war Salad Days die letzte posthume Veröffentlichung von Minor Threat, welche sich schon 1983 aufgelöst hatten. Alle 5 Mitglieder waren und sind in diversen Punk/HC Bands aktiv und haben große Fußnoten in der US Punkgeschichte hinterlassen. Minor Threat selber waren einer der ersten Straight Edge[1] Bands, wenn nicht sogar die erste Band innerhalb dieser Szene. MT spielten kurze, knackige Songs, schnell und auf den Punkt genau. Hört euch einfach von der ersten Single den Song Straight Edge an!
Frohen Mutes schipperten wir schließlich der Insel entgegen. Während am ersten Tag des Inselaufenthalts die Ladies die East Riddlesden Hall bei Bradford besichtigten, nutze ich die Zeit, um in Riddlesden Grind and Groove Records zu besuchen. Auch hier war ich erfolgreich. Die Hazy Shade Of Winter Single von den Bangles, diverse Wedding Present Tapes und ebenfalls von The Wedding Present die Shaun Keaveny Session Single! Als UK Record Store Day Release am Black Friday 2020 erschienen, war diese Single mein erster Catch in UK, ich war really satisfied! Für die erste Portion Fish & Chips (₤ 7,90, cash only, soviel zu: Es gibt nur Kartenzahlung in UK), und zu einem schnellen Spurt durch die East Riddlesden Hall reichte die Zeit dann auch noch.
Am nächsten Ziel Birmingham wurde ich leider nicht fündig. Der älteste Laden am Platz, The Diskery Birmingham, hatte nur Second Hand Ware und war mit Punk „Low“ (Eigenaussage) bestückt. Das „Low“ erwies sich leider als sehr euphemistisch, und die Plattentasche blieb leer. Sturm Amy, einhergehend mit Regenfluten, hielt uns davon ab, weitere Läden in Birmingham aufzusuchen. Ein gut gefüllter Comicladen fing mich aber stattdessen ab, ein Superman Logo Flaschenöffner sowie das Lost Boys[4] Kartenspiel ließen den Tag dann doch nicht so trostlos enden.
Der Besuch bei Flow Records in Oxford war dafür umso erfolgreicher. Im hinteren Teil des Common Ground Café, einem Open Space mit W-Lan, der zusätzlich auch Second-Hand-Kleidung anbietet, verflog die Zeit. Zwei Stunden Zeitfenster können sehr schnell um sein. Der Ladeninhaber Chris erwies sich, wie auch alle Ladeninhaber*innen in UK, als sehr hilfsbereit und freundlich. Bei Flow Records wurde es dann auch richtig interessant. Unmengen an unbekannten Labels und Künstler*innen, auf Vinyl und Tapes mussten durchgehört werden. Das Londoner Label Death Is Not The End, ist eine dieser Entdeckungen. Zusätzlich auch als Pirate Radio tätig, liegt das Hauptaugenmerk des Labels auf obskurem Ambient, Experimental Musik oder vergessenem Tango, Latin, Blues usw. aus dem letzten Jahrhundert. Die Tape-Zusammenstellung The Past Is A Wound In My Heart nimmt uns mit in türkische Kaffeehäuser und Tango Aufnahmen der 1920er bis 50er Jahre. Klar sind die Aufnahmen alt und klingen deswegen auch nicht taufrisch, aber es lohnt sich trotzdem Seyyan Hanım, İbrahim Özgür, Yaşar Güvenir, Hikmet Hanım und viele mehr kennenzulernen. Die Label Band Death Is Not The End mit dem s/t Tape wurde ebenfalls eingepackt. Low-Fi Blues, hallig, knarzige Gitarre, Glockenspiel oder Xylophon, unterlegt mit Field Recordings; very, very strange klingt das alles. Die Vocal Version dazu liefern Heavenly aus Australien mit ihrem Tape Tragic Tiger‘s Sad Meltdown. Akustikgitarre, nöliger Frauengesang, auch wieder gepaart mit obskuren Hintergrundgeräuschen. Auch hier liegt das gute-Laune-Level sehr tief unter der Limbolatte. Eine weitere Entdeckung ist der Engländer Ezra Gray. Der freiberufliche Klangkünstler, Musiker und Toningenieur, mit Bachelor-Abschluss, ist spezialisiert auf Acoustic Ecology, Field Recording, MAXMSP-Software[5], Electronics und Installationen. Das Sonic Rituals Tape, erschienen im Juni diesen Jahres, wurde mit analogen und digitalem Equipment produziert. Naturaufnahmen, Tape Loops, Gitarre, Cello, Synthesizer und Drones verweben Sonic Rituals zu: „A meditation on the natural world, ancient landscapes and observations of the human experience.“
Aber auch Vinyl wurde exportiert. Als ich eine Aphex Twin 12“ an der Wand entdeckte, verwies Chris auf den 2023 Flyin Lo-Fi Remix Repress von JP Buckle. 1998 im Original auf Rephlex erschienen, hat Ping Disc aus Leicester, UK, sich des Technoklassikers angenommen und mit vier Remixen im neuen Gewand veröffentlicht. UK Jahrtausendwechsel Techno at it‘s best. Fette Rave Anleihen machen auch sofort klar, dass wir in England sind und nicht in Berlin. OH GOD, this is TECHNO MUSIC.
Eine weitere Empfehlung waren Able Noise. Ein Duo, bestehend aus Alex Andropoulos (Athen) und George Knegtel (Den Haag). Auf dem 2024er Album High Tide spielen die beiden Baritongitarre und Schlagzeug, haben dabei Unterstützung von Gastmusiker*innen an Gitarre, Saxophon, Klarinette und Violine. Verschrobener experimenteller Neo Folk, mit leichten Jazzanleihen, gespickt mit Spoken Word und Gesangseinlagen machen High Tide zu keinem Hörer*innen-freundlichen Album. Die Kompositionen erfordern 100-prozentige Aufmerksamkeit, am besten konzentriert auf dem Sofa mit Kopfhörern. Erschienen sind sie auf World Of Echo, London. Die letzte Entdeckung an diesem Samstagnachmittag waren schließlich Structure Moderne aus Paris mit ihrem s/t Debütalbum aus dem April diesen Jahres. Eine befreundete Band von Ladeninhaber Chris, die wohl auch, wenn ich das richtig verstanden habe, schon mal im Common Ground Café gespielt hat. Auch hier geht es weird experimentell, aber schneller und krautiger zur Sache. Die fünf Französ*innen hauen uns mit ihren sechs Songs so dermaßen einen um die Ohren, dass die Spucke wegbleibt. Sogar auf Deutsch wird gesungen. Der letzte Song auf Seite zwei, Der Wunder Viele hätte auch Anfang der 80er erscheinen können, als NDW noch mehr Punk als Pop war. Florian Friedrich am Gesang trägt aber auch dazu bei, dass DWV ein gelungener Abschluss des Albums ist. Über Bandcamp erhältlich und selbstveröffentlicht.
In London erkundeten wir bei einem Day Off nach dem Besuch des National Maritime Museums Greenwich. Bei Casbah Records erstand ich zwei Punkscheiben. Die Single von Johnny And The Self Abusers, erschien 1977 auf Chiswick Records (UK) und wurde 2023 auf Soul Jazz Records (auch UK) wiederveröffentlicht. Die Self Abusers sind die Vorgängerband der Simple Minds, mit einem grandiosen Jim Kerr am Gesang. Saints And Sinners und Dead Vandals sind ein großartiges Vermächtnis aus der Pre-Simple-Minds-Phase, und Jim Kerr kann auch Punk! Die zweite Scheibe war eine alte UK Pressung der Never Mind The Bollocks Here‘s The Sex Pistols LP. Da brauche ich, hoffe ich, nicht weiter drauf einzugehen. Im Music & Video Exchange Store entdeckte ich einige alte Skullflower Singles und Mrs. Cave ein Bonnie Prince Billy (Joseph Will Oldham) Album, Wolfroy Goes To Town. 2011 auf Domino Records in England erschienen, ist dieses Album des amerikanischen Sängers ein Peak nach oben in der Reihe der sowieso guten bis sehr guten Alben. Ruhig, tragend und bedächtig zieht Bonnie Prince Billy mal wieder alle Register seines Könnens.
Beim Besuch des geschichtsträchtigen Knole House[6] in Sevenoaks bekam einer der Volunteers des National Trust mit, dass ich mich für Vinyl interessiere und wies mich auf den ortsansässigen Laden hin. Ich bedankte mich freundlich, beschloss aber bei der Größe des Anwesens und des engen Zeitfensters, diesen außen vor zu lassen. Da ich dann aber doch früher fertig mit der Besichtigung war und ein gemütlicher Sessel zum Verweilen einlud, besuchte ich, neugierig geworden, die Webseite von Olaf’s Record Store. Die weitere Verlinkung zu Discogs und der Sales List des Ladens verwies dann „leider“ auf die erste The Proletariat Single. Die HC-Punk-Single der Band aus Boston (USA) stand schon länger auf meiner Wantlist. 1985 auf Homestead Records, New York erschienen, ist die Single nicht der goldene Gral im Punkbereich, aber ein solider Klassiker aus dieser Zeit. Ein Blick auf die Uhr zeigte 12:20, Google Maps meinte: 18 Minuten zu Fuß zum Shop. Schwupps verabschiedete ich mich bei Mrs. Cave mit den Worten: „Das schaffe ich in 10 Minuten!“ und marschierte los. Sie meinte nur: „Der Bus fährt um 13:15 Uhr und wartet nicht“. Punkt 13:12 und 10 Pfund ärmer stand ich, sehr verschwitzt, wieder am Reisebus. Zeitgleich mit Mrs. Cave, die mich mit großen Augen anschaute! Marketplace und Death Of A Hedon sind zwei zuverlässige Punknummern, die beim abendlichen Streamen im Hotelzimmer Mrs. Cave auch ein wohlwollendes Nicken entlockten.
Alles in allem war die England Reise sowohl kulturell als auch vinyltechnisch eine Bereicherung. Der Besuch der alten Herrenhäuser, des Blenheim Palace (Geburtsort von Winston Churchill) oder auch der Quarry Bank Mill, einer alten Baumwollweberei, in der mehr oder weniger der Kapitalismus erfunden wurde, sehr beeindruckend. Leider haben wir selten so einen so augenscheinlichen Diskrepanz zwischen Arm und Reich gesehen und erlebt. Heruntergekommene marode Arbeitersiedlungen, in einer Reihe mit leerstehenden Ladenlokalen und Billigshops. Ein Viertel weiter bürgerliche, viktorianische Häuserzeilen, schick und gepflegt. Die Schere zwischen Arm und Reich geht in UK immer weiter auseinander, und der Satus Quo der Menschen ist eindeutig an der Kleidung und dem Zustand der Zähne abzulesen.
Cheers and Greetings, yours sincerily
Mrs. Cave and the Oberbilker
[1] Auch Mrs. Cave hat an der Royal School of Needlework die Nadel fliegen lassen und in very, very british athmosphere gestickt.
[2] Dischord Records wird von Minor Threat Sänger Ian MacKaye betrieben, welcher wiederum auch Sänger bei Fugazi und vielen andern anderen Bands war und ist.
[3] Minderjährigen Konzertbesuchen wurde Anfang der 80ger Jahre in LA ein X auf den Handrücken gemalt, damit diesen kein Alkohol ausgeschenkt wurde. Der grassierende Alkohol- und Drogenkonsum veranlasste immer mehr Jugendliche deswegen freiwillig auf Rauschmittel und Tabak zu verzichten und das X wurde von ihnen adaptiert. Zum Thema Straight Edge und den Ausweitungen innerhalb der Musikszene, im Guten wie Schlechten, könnten wir einen eigenen Artikel schreiben.
[4] Vampierfilm aus den 80gern mit Kiefer Sutherland
[5] MAXMSP-Software ist eine graphische Integrierte Entwicklungsumgebung für Musik und Multimedia von Cycling ‚74 (Ableton), die für Echtzeitprozesse ausgelegt ist. (Jetzt sind wir alle schlauer (-.)
[6] Das unter besonderem nationalen Schutz stehende Knole House beherbergt in seiner weitläufigen Anlage 365 Zimmer wie das Jahr Tage, 52 Treppen wie das Jahr Wochen und sieben Höfe wie die Woche Tage hat und ist damit ein sogenanntes „Kalenderhaus“. Es inspirierte Virginia Woolf zu ihrem Roman „Orlando“.