„Alles ist Kunst, alles ist Politik“

Zu heiß, um quer durch die Stadt mit Bus und Bahn zum Baggerloch zu fahren? Wie wär‘s alternativ mit einem Museumsbesuch? Das Bildungsbürgertum liebt es stets wohltemperiert. Deshalb sind Kunsträume auf eine angenehme Temperatur heruntergekühlt. Und die Kunstsammlung NRW, in der unter dem Motto „Alles ist Kunst, alles ist Politik“ weiterhin Werke und Installationen von Ai Weiwei gezeigt werden, kann da durchaus von Interesse sein. Sommerliche Nachbetrachtungen zur Ausstellungsrezension in der letzten TERZ.

Ai Weiwei stellt die Frage nach dem Wert von Geflüchteten in unserer kapitalistischen Gesellschaft: Warum steht er als chinesischer Dissident derart hoch im Kurs, während andere im Mittelmeer ertrinken? „Fundamentale Rechte werden angetastet“, kritisiert er in einem auf 3sat und ZDF kurz nach der Eröffnung ausgestrahlten Bericht. Er könne da keinen Unterschied sehen zwischen dem, wie die so genannten „kommunistischen“ Regime Menschen behandeln und wie im Westen mit Geflüchteten umgegangen wird. „Menschenrechte werden verletzt. Für mich ist das eins“, sagt er. Im Anschluss an die gewaltsame Auflösung des Übergangslagers Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze hatte er dort zurück gebliebene Kleider und Schuhe einsammeln lassen. „Alle glaubten, dass das Abfall ist, genauso wie die Besitzer dieser Kleidung. Sie wurden zum Abfall unserer Gesellschaft erklärt“, konstatiert er.

Sweatshop in Jingdezhen

Dass mir im „Kurzführer“ zur Ausstellung in der Kunstsammlung NRW quasi vorgeschrieben wurde, was ich bei gewissen Objekten zu assoziieren habe, empfand ich als Bevormundung. Als ich den mit 60 Millionen Sonnenblumenkernen gefluteten Raum – Ai Weiweis Arbeit „Sunflower Seeds“ – betrat, hatte ich die spontane Assoziation: Na super! Da kann Ai Weiwei ja drin baden wie Dagobert Duck in seinem Geldspeicher. Ich musste mich selbst überreden, meine Assoziation nicht aus meiner Ausstellungsbesprechung in der Juni-TERZ herauszustreichen. Ich dachte: Das ist doch zu albern, das kannst Du nicht bringen. So funktionieren verinnerlichte Zensurmechanismen! Denn ginge es nach dem „Kurzführer“, sollte ich etwas ganz anderes assoziieren. Da lese ich: „Mit Blick auf die Bedeutung Chinas für den heutigem Weltmarkt werden hier Überlegungen zu kunsthandwerklicher Einzel- und industrieller Massenproduktion angeregt sowie Produktionsbedingungen im Niedriglohnland für international gefragte Konsumgüter angestoßen.“ Ist das wirklich „Kunsthandwerk“, winzige Porzellanobjekte so zu bepinseln, dass sie „ganz echt“ wie Sonnenblumenkerne aussehen? Im Ausstellungsraum der „Sunflower Seeds“ ist auf einem Monitor zu sehen, wie die Sonnenblumenkerne in einem Sweatshop in Jingdezhen produziert werden. Würde eine derartige Tätigkeit von Gefängnisinsassen verlangt, käme es wohl selbst hier in Deutschland zur Gefängnisrevolte.

Geflüchtete in Museumswerkstätten

Jochen Gerz ging in Duisburg einen anderen Weg. Sein Projekt „The Walk. Keine Retrospektive“ war bis Mai dieses Jahres an der Großen Glashalle des an der Düsseldorfer Straße gelegenen Lehmbruck Museums zu sehen. Die Glasfassade war mit einem autobiografischen Text quasi „tätowiert“, der jedoch nur von außen lesbar war – vom Innenraum aus betrachtet erschien er in Spiegelschrift. „Unsere Gesellschaft kommt aus dem Krieg und die Geflüchteten kommen auch aus dem Krieg“, stellte der 1940 in Berlin geborene Gerz fest. Dass junge Geflüchtete bei uns nur „für Beschäftigungen am unteren Rand“, nur für einfachste Tätigkeiten qualifiziert werden, ärgere ihn. Deshalb habe er zum Museum gesagt: „Lasst sie doch an der geistigen Beschäftigung teilhaben!“ In Kooperation mit der Duisburger Handwerkskammer wurde ermöglicht, dass sie in den Museumswerkstätten Praktika machen konnten. Das wurde sowohl für die Museumsbeschäftigten als auch für die Geflüchteten eine ganz neue Erfahrung. Während der Dauer des Projekts fanden zahlreiche Diskussionsveranstaltungen zum Thema Flucht und Migration statt, samstags wurde wöchentlich zum offenen Talk geladen.

Eine ebenfalls ganz neue Erfahrung war es möglicherweise für das Bildungsbürgertum, bei der Finissage im Lehmbruck Museum nicht von Ästhetik, sondern von einem Vertreter der Kreishandwerkerschaft zu hören, wie viel Kreativität es bedurft hätte, die Praktika in den Werkstätten des Museums überhaupt zu ermöglichen. Bürokratische Hürden und Stolpersteine seien zu überwinden gewesen. Denn das Geflüchtete im Museum arbeiten, passte eben nicht ins enge Raster der für sie vorgesehenen Qualifizierungsmaßnahmen.

Ai Weiwei bei Fridays for Future

Ai Weiwei hat zwar keine Geflüchteten in die Werkstätten der Kunstsammlung NRW geholt, doch dass er als chinesischer Dissident die Situation von Geflüchteten an den Grenzen Europas zum Thema macht, passt vielen nicht. „Der Weltstar mit dem Betroffenheitsdrang“ stichelte der österreichische Standard bereits in der Headline. Ethik und Ästhetik seien „Gegensätze, die einander ausschließen“, hieß es in einem Kommentar zum Standard-Artikel. Mit anderen Worten: In einer Kunstschau soll alles hübsch ästhetisch sein. Seltsam, dass diese Vorwürfe nicht gegen Ai Weiwei erhoben wurden, als er noch ausschließlich das Regime in Beijing an den Pranger stellte ... Ach ja, eine Ergänzung zu guter Letzt: In meiner Ausstellungsbesprechung in der Juniausgabe der TERZ hatte ich Ai Weiweis Haltung mit der Greta Thunbergs verglichen. Erst im Nachhinein entdeckte ich im Internet, dass Ai Weiwei mit Lebenspartnerin seinen Sohn zu einer Fridays-for-Future-Demo in Berlin begleitet hatte. Dort fand er deutliche Worte zum Klima-Thema: „Wir könnten einen Punkt erreichen, an dem es kein Zurück mehr gibt. Kapitalismus unter den Bedingungen einer globalisierten Welt ist unglaublich machtvoll, mit Unternehmen, die Profit über alle Grenzen hinweg machen wollen. Da gibt es schlicht keine Moral (…). Das Problem ergibt sich von zwei Seiten: gieriger und rücksichtsloser Kapitalismus in den entwickelten Ländern und die verzweifelten Armen in den Staaten, die Aspekte des Umweltschutzes nicht in den Vordergrund stellen können oder wollen.“ Umso erfreulicher findet er, dass „die jungen Leute“ die „Wichtigkeit des Themas verstanden“ haben, „und sie machen sich nicht wie andere Erwachsene vor, es würde in der Welt draußen gerade nicht etwas Existenzielles passieren, was unsere Erde bedroht.“ („Aus Schülerprotest muss internationale Vereinigung werden“; Interview mit Ai Weiwei in Tagesspiegel, 31.01.2019). In diesem Sinne – ob nach den Klimaprotesten oder an besonders heißen Tagen: zur Abkühlung ins Museum!

Thomas Giese

Ai Weiwei
bis 1. September 2019
K20 Grabbeplatz
K21 Elisabeth Str./ Ständehausstr.1
(Kombiticket: Erwachsene 18 Euro, ermäßigt 14 Euro, Kinder 4 Euro)
Di-Fr: 10-18 Uhr, Sa-So: 11-18 Uhr