„... Faschismus in jedem Land“

Auf der Leseliste der TERZ: Faschismustheorien in ihrer Geschichte und in unserer Gegenwart

Die AfD ist rechts, extrem rechts. Ein gerichtlich festgestellter „Faschist“ ist mindestens einer von ihnen. Seine Position ist aber dennoch stabil – er gilt als der kommende Mann bei der nächsten Rechtsaußen-Häutung der Partei. Derweil nennt der Verfassungsschutz den „Flügel“ und die AfD-Jugendorganisation „rechtsextremistisch“, beobachtet den Landesverband Brandenburg als Struktur und bundesweit Einzelne. Die Partei selbst distanziert sich derweil mehr oder weniger ernsthaft von ihren „radikalen“ Akteur*innen, schmeißt raus, wer zu offensichtlich neonazistischen oder extrem rechten Strukturen nahesteht oder ihnen gar angehört.

Der Begriff „Rechtsextremismus“ hat als staatstragende Vokabel aus dem Handwerkskoffer des Verfassungsschutzes offenkundig einen größeren Impact als der Vorwurf, ein „Faschist“ zu sein. Trägt er also zur Stigmatisierung und Destabilisierung der AfD bei? Taugt er darum mehr als der „Faschismus“-Begriff, um Kräfte und Akteur*innen der extremen Rechten einzuordnen? Wohl kaum.

So wird es immer wichtig sein und bleiben, antifaschistische Positionen und Antworten zu schärfen, sich auf Vorstellungen und Interpretationen darüber zu verständigen, mit was wir es eigentlich zu tun haben, wenn wir z.B. von faschistischer Ideologie und Praxis sprechen.

Natürlich ist das kein neues Anliegen und wir fangen dabei sicher auch nicht bei „Null“ an. Viele von uns haben sich seit Jahren oder immer mal wieder durch Berge von Literatur gewühlt, auf der Suche nach der einen, der grundsätzlichen Faschismustheorie. Dabei werden sich manche gewünscht haben, dass die bekannten oder wortstarken Theoretiker*innen etwas weniger akademisch formulieren würden. Zugleich beginnen Faschismustheorien inzwischen, Teil der 100 Jahre währenden Geschichte des Faschismus zu sein. Schmerzlich deutlich wird das, je häufiger wir einzelne Theoretiker*innen nicht mehr selbst zu ihren Analysen befragen können. So starb am 21. Juni 2020 mit Zeev Sternhell einer der wohl bekanntesten Faschismustheoretiker, der Zeit seines Lebens für eine Ideologieanalyse und eine praxeologische Perspektive auf „Faschismus“ eingetreten ist.

Zur richtigen Zeit erscheint darum nun Mathias Wörschings „Faschismustheorien“-Buch. Es hat das Zeug dazu, Orientierung zu geben und uns vorzubereiten darauf, eigene Überlegungen anzustellen darüber, ob wir einen neuen, alten, veränderten, neu gefüllten oder gar keinen Begriff von „Faschismus“ brauchen für eine kluge Kampfansage – in jedem Land.

Bernd Hüttner hat das Buch für die TERZ gelesen:

Faschismustheorien

Hier liegt ein Buch vor das – längst überfällig – eine Lücke schließt. Denn einen allgemeinverständlichen Überblick über die vielen verschiedenen Faschismustheorien gab es bisher nicht.

Seit 2009 betreibt Mathias Wörsching die Website https://faschismustheorie.de und hat nun, unter Mithilfe von Fabian Kunow, diese kompakte und kundige Einführung vorgelegt.

Er konzentriert sich vor allem auf die klassische Epoche von 1918 bis 1945 – und geografisch auf Europa. Der Blick auf die Entwicklungen in Ländern wie Japan, Chile oder Indonesien fällt also heraus, in bewusster und begründeter Entscheidung. Zugleich geht es Mathias Wörsching auch nicht um Fragen der Genozid-, oder gar um die umstrittene Rechtsextremismus- und Totalitarismusforschung.

Nach einem kurzen Überblick (S. 29-52) gibt es anschließend ein Kapitel zur Einführung in die Theorien zu Klasse und Faschismus. Der Hauptteil widmet sich dann vier Gruppen von marxistischen und neo-marxistischen Faschismustheorien bis in die 1980er Jahre, sowie der psychoanalytischen Faschismustheorien. Um nur einige der vielen, durchweg männlichen Autoren zu nennen: Thalheimer, Trotzki, Reich, Fromm, Neumann, Adorno, Kühnl, Opitz, Poulantzas. Anschließend werden noch Autoren wie George Mosse, Zeev Sternhell oder Roger Griffin vorgestellt. Alle Kapitel des Hauptteils können auch einzeln gelesen werden.

Gemeinsam sei allen Faschismen, so Wörsching, ihr Nationalismus, ihr antidemokratisches Denken und Handeln, ihre Männerbündelei und ihr Antikommunismus. Aber, so zitiert er zustimmend George Mosse (S. 219): Jede Gesellschaft habe den Faschismus entwickelt, der „ihrem spezifischen Nationalismus gerecht wurde“.

Was steht nun im Mittelpunkt des Interesses derjenigen, die über Faschismus nachdenken und schreiben, meist um ihn zu bekämpfen? Die Ideologie, die Programmatik, die Praxis, die Organisation, die Handelnden der Faschismen? Schon die Vielfalt der möglichen Kernpunkte zeigt, dass sich aus ihnen sehr unterschiedliche Schwerpunkte der einzelnen Theorien ergeben. Diese lassen sich entlang weiterer, zum Nachdenken anregender Fragen sortieren: Ist der Faschismus bürgerlich oder anti-bürgerlich? War der historische Nationalsozialismus eine Marktwirtschaft, oder ein (totalitärer) Kapitalismus ohne Marktmechanismen? Kann der Nationalsozialismus aus der ökonomischen Logik von Kapitalismus (und Imperialismus) abgeleitet werden? Welche Rolle spielen autoritäre Muster der Psyche bei der Herausbildung des Faschismus? Braucht der Faschismus eine Massenbasis, oder ist er nicht vielmehr eine Herrschaft von Wenigen über die Vielen? Stellt der Faschismus die Gesellschaft ruhig, oder mobilisiert er sie vielmehr? Ist der aggressive Antisemitismus konstitutiv für den Nationalsozialismus? Welche Rolle spielen oder haben die Führer (wie Franco, Pinochet und andere)?

Die Publikation besticht durch ihren enzyklopädisch-lexikalischen Charakter, der freilich noch überzeugender wäre, wenn der Band ein Personenverzeichnis enthalten würde. Die Literaturliste ist nicht den Kapiteln zugeordnet, sondern in sich thematisch sortiert, was gewöhnungsbedürftig ist. Bei inhaltlichen Bewertungen hält sich Mathias Wörsching zurück. Aber es wird deutlich, dass er sich einem undogmatischen, linksradikalen Antifaschismus zurechnet. Insgesamt ein hilfreiches, nützliches – und ein notwendiges Buch.

Bernd Hüttner

Das Buch ist für vergleichsweise kleines Geld in Eurer Lieblingsbuchhandlung zu bekommen:
Mathias Wörsching: Faschismustheorien. Überblick und Einführung
Schmetterling Verlag, Stuttgart 2020 [Reihe theorie.org], 240 Seiten, 12 EUR.

Im Blogformat könnt Ihr Euch über aktuelle Positionen und Debattenbeiträge informieren, Texte von Mathias Wörsching und vielen anderen lesen und zahlreiche Autor*innen kennenlernen auf https://faschismustheorie.de.

Einen weiteren Rundumblick auf „Faschismus in Geschichte und Gegenwart“ werfen auch Alexander Häusler und Michael Fehrenschild mit der Frage: Taugt „Faschismus“ überhaupt (noch) für eine Einordnung der gegenwärtigen rechtsaußen-Welt?
Das Büchlein könnt Ihr online lesen (PDF) oder kostenfrei auf der Homepage bestellen.

Wer‘s kompakt haben mag lese außerdem die Ausgabe #74 der LOTTA mit ihrem Schwerpunkt „100 Jahre Faschismus“ – in der Heftausgabe oder 2D unter https://lotta-magazin.de/ausgabe/74.