Picasso, Mayo, Knüppelschläge und die Jahre 1939 bis 1945

Noch Mal Picasso

Die Terz ist mit der Ausstellung „Pablo Picasso. Kriegsjahre 1939 bis 1945“, die in der Kunstsammlung läuft, noch nicht fertig und beschäftigt sich weiter mit ihr.

„Unentwirrbar sind die Stäbe und Stangen verflochten, ein Gewirr aus Stuhlbeinen, Latten eines Zauns, von dem man noch Teile sieht, Armen, Beinen, Knüppeln.“ Das Gemälde hängt in der zweiten Etage des K20, ist Teil der ständigen Sammlung. „Je länger man in das Gemälde hineinschaut, desto mehr Details kann man entziffern, den Tisch mit der umgestoßenen Flasche und dem leeren Glas. Die Zigarettenschachtel. Und verzerrte, gequälte menschliche Körper. Vorn sieht man ein deformiertes Gesicht mit schmerzlich aufgerissenem Mund.“ Gemalt hat es 1937 „Mayo“, bürgerlicher Name Antoine Malliarakis. Anlass war eine von der Polizei brutal niedergeknüppelte Studierendendemonstration in Kairo. „Vielleicht hat das große Anti-Kriegs-Bild oder Studien dazu Mayo als Inspiration gedient“, vermutet Ralf Stifel mit Anspielung auf Picassos „Guernica“.

Diese Zeilen fanden sich in Stifels Rezension der Ausstellung „Art et liberté“, die 2017 im K20 zu sehen war. „Premiere“ war November 2016 im Centre Pompidou, im Anschluss gingen die Gemälde, Zeichnungen, Fotografien, Bücher, Karikaturen ins Museo Reina Sofía in Madrid, wo Picassos „Guernica“ hängt. Nach Düsseldorf gastierte diese Wanderausstellung in der Tate Liverpool, letzte Station war das Moderna Museet in Stockholm. Die Kunstsammlung NRW erwarb „Coups de bâtons“ (Knüppelschläge) – so der Name des Werks – mit zwei weiteren Bildern. Die Gruppe „Art et liberté“ – ein Zusammenschluss von Schriftsteller*innen, Künstler*innen, Journalist*innen und Anwält*innen – hatte sich Dezember 1938 in Kairo gegründet. „Lasst uns gemeinsam das Mittelalter besiegen, das im Herzen des Okzidents entsteht“, heißt es im Gründungsmanifest. Auf Cover und Rückseite prangte eine Abbildung von Picassos „Guernica“, verbunden mit dem Appell: „Es lebe die entartete Kunst!“ – in Arabisch auf dem Cover, in Französisch auf der Rückseite. Die aktuelle Kulturzerstörung in Europa geschehe aufgrund von, so heißt es da, „religiösen, rassistischen und nationalistischen Vorurteilen“, regressive Mythen seien auf dem Vormarsch. „In Wien, das in den Händen dieser Barbaren ist, wurden die Gemälde von Renoir zerrissen, die Werke von Freud öffentlich verbrannt“, Werke von Max Ernst, Paul Klee, Kokoschka, George Grosz, Kandinsky und Karl Hofer auf den Index gesetzt. In Rom habe eine so genannte Kommission zur „Verbesserung der Literatur“ beschlossen, dass „alles, was antiitalienisch, antirassistisch, unmoralisch und depressiv ist“ aus der Öffentlichkeit zu verschwinden habe, hieß es in dem Manifest von 1938. (TERZ 10.17)

Filiale oder kämpferischer Antifaschismus?

In deutschen Rezensionen hieß es 2017, „eine ägyptische Filiale des Pariser Surrealismus“ (art-magazin) sei entstanden, von einer „Filiale am Nil“ (Süddeutsche Zeitung) wurde geschwafelt. Aber das war „Art et liberté“ wirklich nicht.

Auf das Besondere hatten Sam Bardaouil und Till Fellrath, die sich 2009 zu „Art reoriented“ zusammengeschlossen haben und die Wanderausstellung kuratierten, wiederholt hingewiesen: „Im Gegensatz zur surrealistischen Praxis, in der vielfach der dominante männliche Blick den weiblichen Körper als Sexualobjekt porträtierte, kritisierte die Gruppe die Erotisierung der Frau.“ In der „Women of the City“ betitelten Wandtext-Tafel hieß es weiter: „Einflussreiche Frauen wie Amy Nimr, Marie Cavadia und Lee Miller spielten eine entscheidende Rolle bei Art et liberté“.

Lee Miller, US-Amerikanerin, hatte sich im Paris der 1920er Jahre zu einer herausragenden surrealistischen Fotografin entwickelt. Ihr Name wurde in einem Atemzug mit dem von Man Ray genannt, Picasso porträtierte sie mehrfach, bevor sie nach Kairo ging.

Der Kunsthistoriker Philippe Dagen hatte November 2016 in „Le Monde“ den kämpferischen Charakter von „Art et liberté“ betont. Titel seiner Rezension: „Un surréalisme de combat en Egypte“. Politische Kritik und Avantgarde-Ästhetik seien bei „Art et liberté“ untrennbar miteinander verbunden gewesen. Die mussolini-futuristische Propaganda-Rede des italienischen Faschisten Marinetti war im März 1938, daran erinnert Dagen, durch Proteste unterbrochen worden. Einer der Lautstärksten war der 1914 in Kairo geborene Georges Henein, der dann neun Monate später das „Art et libertè“-Gründungsmanifest verfasste. Ebenfalls nicht bei Worten belassen wollte es Lee Miller. Als die faschistische Kriegsmaschine in immer mehr Ländern tobte, meldete sie sich als Kriegsfotografin, hielt den D-Day und am 25. August 1944 die Befreiung von Paris im Bild fest. Noch am gleichen Tag besuchte sie die Künstlerateliers, traf Picasso in eben genau jenem Atelier an, in dem er 1937 „Guernica“ gemalt und die ganze Besatzungszeit über ausgeharrt hatte.

Der Krieg der Bilder

In der Ausstellung „Pablo Picasso. Kriegsjahre 1939 bis 1945“ gibt es eine Sektion mit Fotografien, die Picasso, sein Atelier und die erste Ausstellung nach der Befreiung von Paris zeigen. Auf dem ersten Foto ist Lee Miller mit Picasso im Atelier zu sehen, sie, in voller Montur einer Kriegsreporterin. Die zweite Fotografie – abgebildet sind GI‘s, die bei Picasso Werke betrachten – ist von Robert Capa, wie Miller akreditierter War Correspondent. Capa hatte schon ab 1936 den Widerstand von Spanier*innen und der Internationalen Brigaden gegen die vorrückenden Putschisten und Faschisten mit der Kamera begleitet. Wenige Wochen nach der Befreiung erschien Capas Fotoreportage „Paris is free“ im New Yorker Life-Magazin, im November folgte seine Reportage über Picasso und die junge Künstler*innengeneration, für die Picasso in der Besatzungszeit so etwas wie ein Mentor gewesen war. Miller und Capa zogen mit den Alliierten weiter.

Als Gerüchte aufkamen, auch Picasso habe sich im Range eines französischen Offiziers den Truppen angeschlossen, suchte die Journalistin Simone Téry ihn in seinem Atelier auf. Picasso habe ihr klargemacht, seine Waffen seien Farben und Formen, und Malerei sei „eine offensive und defensive Waffe gegen den Feind“ („Picasso n’est pas officier dans l’armée française“, Les Lettres françaises, 24. März 1945).

Um zu verstehen, was Picasso mit „defensiver Waffe“ meint, müssen wir uns noch einmal die im Netz abrufbare NDR/SWR-Doku „Guernica. Pablo Picasso und die Politik“ anschauen. Krieg ist immer – oft sogar an erster Stelle – ein Krieg der Bilder. In der Doku ist eingangs ein Wochenschaubericht von 1937 zu sehen. In zynischer Weise wird da die Wahrheit auf den Kopf gestellt: Eine Kamerafahrt durch das zerstörte Gernika, „bolschewistische Mordbrenner“ hätten „die altspanische Stadt“ zerstört, dann aber hätten „nationale Truppen“ – gemeint sind die Putschist*innen – sie vertrieben. „Die jüdische Lügenpresse behauptete, deutsche Flugzeuge hätten die Stadt bombardiert“, krächzte die Nazi-Stimme weiter. „Jedoch musste die internationale Weltpresse diese Meldung sehr bald als Pressemanöver der Bolschewisten brandmarken, welche selbst die gesamte Stadt beim Verlassen Haus für Haus niedergebrannt hatten.“ Das war wirklich an Perfidie nicht mehr zu überbieten. Mit seinem monumentalem Wandgemälde rückt Picasso 1937 auf der Pariser Weltausstellung in den Fokus, was der Wochenschaubericht – es waren nur zerstörte Häuser und leere Straßen zu sehen – nicht zeigt: Die Opfer, die Toten, die Verletzten. Dieses Massaker, dieser Mord an der Zivilbevölkerung, groß am Pavillon der Spanischen Republik auf die Leinwand gebracht, machte das Verbrechen der Faschisten öffentlich, was die Weltöffentlichkeit zumindest in Teilen aus ihrer Lethargie aufrüttelte und bewusst machte, welchen Terror der Faschismus in Spanien verübte. Es war nun unübersehbar, dass in Spanien offen Interventionstruppen Mussolini-Italiens und Nazideutschlands Krieg gegen die spanische Republik führten.

Fragen bleiben ungestellt

Die Picasso-Ausstellung „Kriegsjahre 1939 bis 1945“ im K20 ist vom Konzept her problematisch. Wichtige Fragen werden nicht gestellt. Was wollten die GI‘s in Picassos Atelier? Picasso die Hand schütteln? Avantgarde-Kunst sehen? Oder den Ort besichtigen, an dem „Guernica“ entstand, mit dem Picasso der Nazipropaganda die Stirn bot, und dies bereits zu einer Zeit, als in den Regierungsetagen in London und Paris, aber auch in Washington sich alle im fleißigen Wegsehen und Verharmlosen von Faschismus übten?

Der FAZ-Rezensent kritisierte, dass die aktuelle Ausstellung „jenseits der Identifikation mit dem Künstlerhelden keine Zugänge zu Leben und Werk“ des Künstlers sucht. In der Tat erweist es sich als Problem, dass die Schau ohne wesentliche konzeptionelle Veränderung aus Frankreich nach Düsseldorf verpflanzt wurde. Sie war vom Musée de Grenoble in Kooperation mit dem Pariser „Musée national Picasso“ unter Einbeziehung des Centre Pompidou für Grenoble enwickelt worden. Auf den Texttafeln wird scheinbar belanglos Picassos Alltag geschildert, koordiniert mit weltgeschichtlichen Begebenheiten. In Frankreich war dies sicherlich Anknüpfungspunkt für Gespräche, persönliche Erzählungen – „Oral History“ in der Fachsprache der Soziologie. Wenn das Töchterchen wissen will: „Papa, hatte Opa auch so viele Geliebte wie Picasso, als er in der Résistance war“, kann all das, was an den Wänden nicht zu lesen ist, in Form von Familiengeschichte recht lebhaft ergänzt werden. Doch die Ausstellung in dieser Form im Land der ehemaligen Besatzer zu zeigen, macht wenig Sinn.

Auch ist für Picasso 1945 nicht das Jahr der Befreiung. Tausende und Abertausende aus Spanien Geflüchtete saßen weiter in Südfrankreich fest. Die Periode von 1939 bis 1945 wurde in Grenoble folglich als „une période d’exil intérieur“ („eine Zeit des inneren Exils“) bezeichnet. „Guernica“ – als Auftragsarbeit für die Spanische Republik entstanden – hatte Picasso sich 1939 für seine große Retrospektive im New Yorker Museum of Modern Art ausgeliehen. Da es aber nach 1939 keine Spanische Republik mehr gab, wurde eine Rückgabe an die rechtmäßige Eigentümerin problematisch. Picasso verfügte, dass das Bild so lange im Museum of Modern Art verbleiben solle, bis es in Spanien wieder eine Republik gebe, an die es dann übergeben werden könne. Dies hat er nicht mehr erlebt. Er starb 1973 im französischen Exil.

Die Mängel der Düsseldorfer Schau sind aber kein Grund, einen Besuch des K20 zu meiden. Im Gegenteil. Die Räume sollten aber nicht ohne Vorbereitung betreten werden. Die im Netz verfügbaren Dokus „Guernica – Pablo Picasso und die Politik“ (NDR/SWR-Koproduktion, 1981) und „Kunst als politische Waffe“(Laurence Thiriat; arte-France 2013) hatte ich bereits erwähnt. Auch der Roman „Die Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss kann hier hilfreiche Dienste leisten. „Die schmerzhafte Verunstaltung des Menschen unter der Wucht der Destruktion widersprach der Ansicht der Partei, daß der Kämpfende in jeder Lage seine Stärke und Einheit beizubehalten habe“, heißt es da. Und über „Guernica“: „Da waren groteske Züge, gleichsam kindlich hingekritzelt, sie waren, wie es hieß, ungeeignet, die Sache des Proletariats zu vertreten.“ Zwei Sätze weiter verteidigt Peter Weiss das Werk: „Indem das Zerfetzte sich zu einer neuen Ganzheit zusammenschloß, wurde dem Feind eine Abwehr entgegengestellt, die unbesiegbar war.“ Die auf Leinwand gebannte Zerstückelung wurde von vielen keineswegs als depressiv empfunden. Sonst wäre Picassos Atelier während der Besatzungszeit nicht ein so beliebter Treffpunkt für in der Résistance Aktive gewesen. In der „Die Ästhetik des Widerstands“ findet sich die eingehende Auseinandersetzung mit Picassos „Guernica“ auf den letzten dreißig Seiten des 1. Bandes.

Ein K20-Besuch sollte mit den Picassoräumen in der ständigen Sammlung auf der zweiten Etage beginnen. In welchem Stil sich Picasso auch versucht, die Werke in der 2. Etage strahlen stets eine Ruhe, eine Geschlossenheit, eine Harmonie aus. Selbst wenn er einen Akt ausschließlich aus Kugeln und geometrischen Körpern komponiert. Viele dieser Stile greift er nach 1939 wieder auf. Doch von diesen späteren Bildern geht dann eine vollkommen andere Wirkung aus. Beim Hinuntergehen zur Wechselausstellung sollte ein Blick auf Mayos „Coups de bâtons“ nicht vergessen werden. Es empfiehlt sich – wie es der Fremde in Jim Jarmuschs „The Limits of Control“ auf, der wiederholt das Museo Reina Sofía aufsucht – sich ruhig vor das Bild zu stellen, quasi in eine Meditation zu versinken und es einfach auf sich wirken zu lassen.

Thomas Giese