Der Neusser Landrat Petrauschke im Abwehrkampf gegen die Coronapandemie

Profit vor Mensch

Man solle zwar keine Freund*innen oder Verwandten besuchen, aber dringend die Wohnung verlassen, um zur Arbeit zu gehen. Verkündet werden diese sich widersprechenden Verhaltensregeln, an die man sich während der Coronapandemie zu halten habe, von Hans-Jürgen Petrauschke, dem christdemokratischen Landrat des Rhein-Kreises Neuss, und zwar in der Online-Ausgabe des Anzeigenblattes „Stadt-Kurier“ vom 28. Mai 2020.

Die Widersprüchlichkeit der staatlichen Verhaltensregeln ist nicht dem Unvermögen oder der Boshaftigkeit des Landrates, sondern dem Zweck des herrschenden Marktwirtschaftssystems geschuldet. Investiert wird Unternehmer*innengeld in diesem System nämlich einzig zu dem Zweck, das investierte Geld zu vermehren. Das probate Mittel für diesen eigentümlichen Zweck ist der lohnabhängige Mensch, den die Wissenschaft von der Profitmacherei (BWL) in brutaler Offenheit als „Humankapital“ bezeichnet. Das „Humankapital“, dessen Gebrauch der/die Unternehmer*in durch die Zahlung eines Lohnes kauft, wird als Arbeitskraft bei der Produktion von Waren und Dienstleistungen dermaßen effizient vernutzt, dass der/ die Unternehmer*in beim Verkauf mehr Geld verbuchen kann, als er / sie investiert hat. Um unternehmerische Profitmacherei auch während der Pandemie zu ermöglichen, kalkuliert das staatliche Herrschaftspersonal mit der Gesundheitsgefährdung zahlreicher Lohnabhängiger. Obwohl das Risiko, angesteckt zu werden, groß ist, sollen Lohnabhängige zur Arbeit gehen, damit sie als Mittel dem Zweck des Marktwirtschaftssystems dienen. Infolgedessen lag die „Präsenz am Arbeitsplatz“ Mitte Mai in Hamburg bei 62 Prozent, in Berlin bei 65 Prozent und in Mecklenburg-Vorpommern gar bei 81 Prozent im Vergleich zu den Durchschnittswerten („Der Spiegel“, Online-Ausgabe vom 1. Juni 2020).

Wie berechnend der marktwirtschaftsdemokratische Staatsapparat zwecks unternehmerischer Plusmacherei mit menschlicher Gesundheit umgeht, zeigt sich an den staatlich verordneten Obergrenzen für Corona-Neuinfektionen. Erst wenn auf 100.000 Einwohner*innen eines Landkreises mehr als 50 neu infizierte Einwohner*innen kommen, werden die gelockerten Gesundheitsschutzmaßnahmen wieder verschärft (tagesschau.de, 10.05.2020). Ihren Grund hat die ungesunde Kalkulation der Staatsgewalt in der Unterscheidung zwischen Gesundheitsgefährdungen einzelner Personen und einer Gefahr für die sogenannte „Volksgesundheit“, wie der marktkonforme Landrat Petrauschke unlängst im Hinblick auf die Schneeganspopulation im Jröne Meerke, einem Park in Neuss, darlegte („Stadt-Kurier“ vom 2. Oktober 2019). Folglich gibt es die Obergrenzen – wie auch die Grenzwerte für Luftverschmutzung et cetera –, weil die Ruinierung der Gesundheit zu vieler Einzelpersonen die „Volksgesundheit“ und somit das Funktionieren des Marktwirtschaftssystems gefährdet.

Die Verkehrung von Mittel und Zweck, die darin besteht, dass im kapitalistischen Marktwirtschaftssystem der/ die Arbeiter*in für den Produktionsprozess, nicht der Produktionsprozess für den/ die Arbeiter*in da ist, gilt es umzukehren, damit gesundes Leben für alle möglich wird.

Franz Anger