Godzilla in der Kunstsammlung

Das K20 zeigt Werke von Thomas Ruff – Mao wirbt an Litfaßsäulen für die Schau

Ein prallvoll gefüllter Kinosaal. Alle starren gebannt auf die Leinwand, billige Pappbrillen auf der Nase: ein Brillenglas grün, das andere rot. Vorne macht Godzilla gerade wieder irgendeine Metropole platt. Dieses Bild aus den 1950er Jahren hat sich uns eingeprägt. Ich bin 1957 geboren, doch vermittelt durch Fotografien trage auch ich dieses Bild im Kopf. Solche rot-grünen Pappbrillen werden einem im K20, zusammen mit der Eintrittskarte zu Thomas Ruff, ausgehändigt. Ruff arbeitet sich stets an den neuesten digitalen Bildbearbeitungstechniken ab. Er habe „immer wieder den Ansporn“, so Kurator Falk Wolf „an die Grenzen des technisch Machbaren in der Fotografie zu gehen.“ Warum aber dann dieses 50er-Jahre-Retro? Godzillafilme waren Billigproduktionen aus Japan. In Hiroshima und Nagasaki zeigten sich zu der Zeit immer grauenhaftere Langzeitschäden, während im Pentagon Strategien diskutiert wurden, nordkoreanische Städte mit einem Atombombenteppich zu überziehen. Der Fallout wäre sicher auch über Japan niedergegangen. Der Leinwandgrusel diente offensichtlich als Abwehr des ganz realen Horrors: Lieber ein Monster in 3D als ein Atomkrieg in echt.

Im K20 sehen wir in einem Saal durch die Pappbrillen keine Godzillas, vielmehr Hügel, Krater, Wüstenlandschaften, menschenleer und sehr ästhetisch in 3D – aufgenommen von der Marssonde Voyager, von Ruff am Computer bearbeitet. In ein paar Milliarden Jahren wird die Erdoberfläche ähnlich aussehen. Wenn wir nicht in kürzester Zeit unser Verhalten drastisch ändern, so warnen Wissenschaftler*innen, könnte durch exponentielles Ansteigen der Erderwärmung dieser Umwandlungsprozess um ein paar Milliarden Jahre verkürzt werden, die Weiterexistenz des homo sapiens schon bald gefährdet sein. Haben die Marslandschaften in 3D also einen subversiver Hintersinn?

Kahle Ausstellungs­wände und TV-Bilder

„Schattenlos, weiß, clean künstlich“ seien Ausstellungsräume, meinte Brian O‘Doherty und erfand 1976 dafür den Begriff „White Cube“. Der „White Cube“ sei ein „einzigartiger Kultraum der Ästhetik“, das Publikum werde auf „Wahrnehmung rein formaler Werte“ gedrillt. Auf der Kasseler documenta IX machte ich 1992 die gegenteilige Erfahrung. Drei monumentale Fotografien an der Wand. Diese Aufnahmen mit Restlichtverstärker in grisseligem Grün vermittelten mir einen Schock. Im Jahr zuvor waren während des US-Kriegs gegen Irak derartige Bilder, aufgenommen von Drohnen beim Zielanflug, über die Bildschirme geflimmert. Und eben daran erinnerten mich die Riesenfotos: Das Ziel bereits ganz groß im Bild, in weniger als dem Bruchteil einer Sekunde wird alles, was zu sehen ist, in die Luft fliegen, sich in Schutt und Asche verwandeln. Lessing sprach in seiner Laokoon-Schrift von dem „fruchtbaren Augenblick“. Dieser ist nicht die Katastrophe selbst, sondern der unmittelbare Augenblick vor ihr, der Moment höchster Spannung. Es waren keine Ziele in Bagdad, sondern Ausblicke in einen deutschen Hinterhof. Erst als ich näher ran ging, las ich auf dem Schildchen den Namen Thomas Ruff. Wie er hatte auch ich zum Wintersemester 1977/78 mein Studium an der Düsseldorfer Akademie begonnen, ihn öfter in seiner Wohnung in der Aachener Str. 1, unmittelbar über dem heutigen BiBaBuZe gelegen, besucht. Im gleichen Block, die Aachener Straße etwas weiter runter, wohnte in einer WG eine ehemalige Kollegin, die in der psychiatrischen Klinik, als ich dort meinen Zivildienst ableistete, ihr Anerkennungsjahr machte. In der WG saß ich oft auf dem Balkon mit Blick auf den Hinterhof, unmittelbar neben dem Zweite-Weltkriegs-Bunker, der zum Atombunker umgebaut worden war. Hinterhof ist nicht gleich Hinterhof. In Berlin SO36 sehen sie anders aus als im Hamburger Schanzenviertel. Die Aufnahmen mit dem Restlichtverstärker hatte Ruff aus eben dieser Aachener Str. 1 geschossen. Ausschlaggebend ist, ob und wie die Bilder an der Wand im Kontakt stehen zu den Bildern in unserem Kopf. Bestätigung, Provokation, Irritation, ein Clash? Irgendeine Beziehung zwischen der „Familie der eigenen Gefühle“, wie es Heine bei einem Louvrebesuch nannte, und dem, was ein*e Künstler*in an Emotion in sein und ihr Werk legt, muss da sein. Wie er zu seinen Bildideen komme, wollte Susanne Gaensheimer im Interview von Ruff wissen. Es sei keine bewusste Entscheidung. „Ich leb einfach mein Leben“, sagt er. Er liest Zeitungen, sieht zuweilen TV „dabei stoße ich einfach auf Bilder oder Ereignisse, die mich aufregen, lachen machen, was auch immer … und wenn sie mir nicht mehr aus dem Kopf gehen – dann setzt irgendwie so ein komischer Arbeitsvorgang ein, dass ich anfange zu recherchieren.“ An manchen Bildern bleibe er dann hängen, wolle wissen: „Was hat‘s damit auf sich? Was bedeutet das? Wie ist es mit der Geschichte?“ Merkwürdig. Genau so entstehen meine Rezensionen. Wenn ich anfange, weiß ich nie, wohin mich der Text trägt. Auch jetzt nicht. Ich recherchiere, forsche, krame in der Historie. Bei der Ausstellung „Utopie und Untergang: Kunst in der DDR“ war es plötzlich die Frage: Wie sieht es eigentlich mit Staatskunst in der Bundesrepublik aus? Das beschäftigte mich fast eine ganze Seite lang. (TERZ 10.19) Gibt es so etwas wie eine Künstler*innengeneration? Als wir an die Akademie kamen, war Konzeptkunst out, die Anhänger*innenschaft von Beuys schrumpfte zusehends. Allzu viele hatten sich von dem beuysschen Gedankensalat, garniert mit Rudolf Steinerschem Gedankengeschwurbel, das Beuys, dieser selbst ernannte „Schamane“ jeder und jedem – ob gefragt oder ungefragt – auftischte, bereits eine Magenverstimmung geholt. Das Bild selbst rückte wieder in den Vordergrund. So wie Ruff unsere Bildwelten im Internet, Zeitungen, TV durchforstet, so greife ich vollkommen willkürlich Bilder in Ausstellungen heraus. Es sind nicht „the best of best“, sondern eben das, was mich in dem Moment gerade anspricht, eine völlig subjektive Auswahl. Und an der arbeite ich mich dann eben ab.

Mao in Düsseldorf

Ein strahlender Mao Zedong wirbt an Litfaßsäulen für die Ruff-Ausstellung. „Tableau chinois“ nennt er die Serie. Im Europa des späten 17. und 18. Jahrhundert waren Chinoiserien en vogue. Exotismus, zudem die Vorstellung eines friedlichen und kultivierten Riesenreiches, philosophisch und literarisch bis in die untersten Schichten gebildet, wurden in den fernen Osten projiziert. Im 19. Jahrhundert zeigt sich dieser Einfluss deutlich bei Édouard Manet, Jean Francois Millet, Vincent Van Gogh und Claude Monet. Monet bezeichnete sein 1867 entstandenes Gemälde „Die Terrasse von Sainte-Adresse“ selbst als „le tableau chinois où il y a des drapeaux“ (chinesisches Gemälde mit den Flaggen), Renoir hingegen sprach hier von „le japonais aux petits drapeaux“. Dieses Gemälde ist deutlich von einem Holzschnitt Katsushika Hokusais beeinflusst. China? Japan? – Egal! Irgendwie fernöstlich halt. Im 19. Jahrhundert wurde dies nicht so genau genommen. Der im Wind flatternde rot-gelbe Wimpel in Monets Bild lässt sich nicht identifizieren, die zweite Flagge – blau, weiß, rot – ist die Trikolore. Den Personenkult um Mao, die fähnchenschwingenden Massen präsentiert Ruff nun in Riesenformat, teilweise verpixelt, Abbildungen, entnommen einer Propagandaillustrierten. Diese Bilder machen bewusst, dass Silvio Berlusconi, Victor Orbán, Donald Trump nur billigstes Plagiat sind. Gewiss, es gibt Unterschiede: Mao Zedong hat eine Mao-Bibel verfasst, aber nie eine Wetterkarte in die Kamera gehalten, auf der er eigenhändig und ganz kreativ mit dem Marker Spuren hinterlassen hat.

Ruffs Arbeiten habe ich jetzt hier fast nur am Rande erwähnt. Aber ich denke, TERZ-Leser*innen sind autonom genug, sich – wenn das K20 wieder geöffnet ist – selbst ein Bild zu machen. Ruff hat durchaus Schwächen. Zuweilen fehlt es ihm an Konsequenz. Mitte der 1980er Jahre wurde er durch seine monumentalen Fotos von Gesichtern bekannt, kühl vom Objektiv eingefangen, wie die Hochöfen, Kohlebunker und Kühltürme von Bernd und Hilla Becher, bei denen er studierte. Namenlos sollten sie ursprünglich sein, anonym, ähnlich den Gesichtern, wie sie uns tagtäglich tausendfach in der City begegnen. Ein Kurator überredete ihn, die Namen im jeweiligen Titel zu nennen. Seine „Nudes“ waren Anfang des Jahrtausends eine provokative Antwort auf Gerhard Richters „Nude on a staircase“ von 1966 (heute: Museum Ludwig, Köln). Richters verwischte Maltechnik hatte er am Computer simuliert. Statt mit dem puritanische Strenge ausstrahlenden, die Treppe hinabsteigenden Akt konfrontiert er das Ausstellungspublikum mit jenen Bildwelten, die im Internet mit am häufigsten angeklickt werden: Pornoseiten. Dass er diese Werke 2001 für einen Bildband, in dem sie zusammen mit Houellebecq-Texten erschienen, zur Verfügung stellte, wurde ihm mit Recht angekreidet. Es hieß, der Verlag habe mit den beiden großen Namen einen Bestseller landen wollen.

Im Netz finden sich diverse Interviews mit Ruff. In dem, das Gaensheimer mit ihm führte, findet sich der Satz: „Ein fotografisches Bild ist eine Behauptung, die ich aufstelle.“ Leider belässt er es nicht dabei, versucht sich schließlich sogar als Soziologe. Das geht schief. Prägnant hingegen ist, was er 2017 in dem charmant kurzen (3:16 min) Gespräch mit Iwona Blazwick sagt, als seine Werke in der Londoner Whitechapel Gallery zu sehen waren: „I‘m part of the society, I live in the society and I react as a political person so of course all those works that are on the wall, they are all issues our society is busy with.“ Podiumsgespräche sind jedoch nicht sein Ding. Aber manche seiner Antworten sind brillant. Vom einstigen documenta-Leiter Okwui Enwezor nach dem philosophischen Background seiner Arbeiten gefragt, meinte er: „A good question“, dachte lange nach und sagt dann: „I have no Idea“, woraufhin beide in schallendes Gelächter ausbrechen.

Thomas Giese