TERZ 06.21 – RHEINISCHES REVIER
Die Idee: Wir ziehen eine Rote Linie zwischen der Abbruchkante des Tagebaus Hambach und dem nun doch noch verschonten Hambacher Forst. Eine Menschenkette, eine große Choreographie, sozusagen eine „soziale Skulptur“. Das entvölkerte Dorf Manheim - hier widersetzen sich noch 14Familien den drohenden Baggern - soll vor dem Untergang gerettet werden.
Tatsächlich finden sich statt der angemeldeten 200 Teilnehmer*innen über 750 Menschen ein. Alles ist perfekt organisiert bis hin zur Kameradrohne, um die spektakuläre Aktion weit draußen für die Menschen drinnen zu dokumentieren.
Am 9. Mai ist Muttertag. Am 9. Mai jährt sich die Kapitulation Deutschlands im 2. Weltkrieg. Am 9.Mai wäre die Widerstandskämpferin Sophie Scholl 100 Jahre geworden. Am 9. Mai 2021 ist auch der 7. Jahrestag der Initiative Waldspaziergänge von Michael Zobel, der in diesem Zeitraum zu seinen 80 Naturführungen im Braunkohletagebaugebiet bisher über 70.000 Menschen mobilisieren konnte.
Über allem schwebt am 9. Mai der nahende 100. Geburtstag von Joseph Beuys, dem grünen „Erfinder“ der sozialen Skulptur.
Manchmal schafft der Zufall des Zusammentreffens kalendarischer Ereignisse eine Art Mikroklima, das für die Durchführung spektakulärer Events fruchtbar erscheint.
Das Wetter scheint am 9. Mai 2021 für die geplante Aktion günstig: Strahlender Sonnenschein. Vor Ort allerdings ist das Unterfangen, eine durch rote Tücher verbundene Menschenkette zu bilden, nahezu unmöglich. Der starke Aufwind aus dem angrenzenden Tagebau bläst den Teilnehmer*innen so stark ins Gesicht, dass sie sich nur mit Mühe auf dem aufgeschütteten, unwegsamen Wall halten können. Und auch die eingesetzte Kameradrohne, die alles dokumentieren soll, gerät ins Trudeln.
In der Manheimer Bucht ist ein spezielles Mikroklima mit starken Winden und sturmartigen Böen entstanden, ein Mikroklima, das auch den Eichenbeständen im „geretteten“ nahen Hambacher Forst buchstäblich das Wasser abgräbt.
Manheim ist eins der weitgehend entvölkerten Dörfer in der Hand RWEs. Ein Braunkohleabbau ist hier eigentlich gar nicht mehr vorgesehen. Aber was man einmal hat … Hier liegen wertvolle Baumaterialen und Füllstoffe für den Tagebau. Und wenn die alle geborgen sind, soll aus der „Manheimer Bucht“, irgendwann einmal ein attraktives Freizeitgebiet werden, sagt RWE. Allerdings muss dafür noch viel Wasser den Rhein runterfließen, um diesen „größten See“ Deutschlands zu füllen. Voraussichtlich wird es in den 80erJahren dieses Jahrhunderts so weit sein, falls ein zunehmend versiegender Vater Rhein noch in der Lage sein wird, diesen Blutzoll zu entrichten.
9. Mai 2021. Vor dem Fernseher. Auf keinem Kanal Bilder von der „spektakulären“ Aktion. Dafür bläst Armin Laschet bei Anne Will der Wind kräftig ins Gesicht, als er auf die „Fridays for Future“-Aktivistin Luisa Neubauer trifft. Durch die Bank haben die regierenden Parteien das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Konkretisierung der Klimapolitik gefeiert, als seien ihnen bisher die Hände gebunden gewesen. Nun hängt Laschet sein Festhalten an der Rheinischen Braunkohle wie ein Klotz am Bein.
Auch am nächsten Tag gibt es keine Notiz in der Presse. Naturführer Zobel beklagt, dass „im WDR, im Aachener Zeitungsverlag, in den Kölner Zeitungen, in der Rheinischen Post ... “ kein Wort zu lesen oder hören gewesen ist. Offensichtlich reicht es nicht, den Medien „soziale Skulpturen“ in Videos mundgerecht zu servieren, um Aufmerksamkeit zu erzielen. Wir werden im Sommer wohl noch ein Schippchen drauflegen müssen, um Ministerpräsident und Kanzlerkandidat Laschet im Wahlkampf ernsthaft in die Braunkohle-Bredouille zu bringen: Laschet - Lasset!
Michael Flascha