TERZ 06.21 – NOISE OF ART
Als Beuys 1982 auf den Bonner Rheinwiesen sein „Sonne statt Reagan“ sang, war das weder ästhetisch noch schön. Es klang wie die Fortsetzung der Abschreckungsdoktrin mit anderen Mitteln: „Hau ab mit deinen Nuklearstrategen/ Deinen Russenhassern/ Deinem Strahlenregen.“ Manche Verszeile schmerzte: „Dieser Reagan kommt als Mann der Rüstungsindustrie/ But the people don‘t want it – nie!“ Der Refrain „Ob Ost/ Ob West/ Auf Raketen muss Rost!“ setzte sich unangenehm im Gehörgang fest. Bei der Bundestagswahl platzierten die Grünen den Filzhutmann wohlweislich nicht auf einen aussichtsreichen Listenplatz. Wer so schlecht singt, kostet am Ende nur Stimmen!
Im Jahr zuvor war der frisch gewählte US-Präsident bereits Thema im Altbierstädter Karneval. Der Beuysschüler Rüdiger Wich, Spitzname „Tschibbi“, geborener Berndt, spielte dabei eine gewichtige Rolle. Die Session wurde zum Urknall des rheinischen Jeckenprotests. Die Initiative „Düsseldorfer gegen Atomraketen“ hatte sich gemeinsam mit der „Wandmalgruppe Düsseldorf“ zum Ziel gesetzt, den Narren Ronald Reagans „Nachrüstung“ schmackhaft zu machen. Mit dem „McRonald‘s Schießburger“, einem mit Atomraketen gespickten Riesen-BigMac, setzte sich der Tross 1981 als Kopie einer US-Wahlkampfparty vor den offiziellen „Zoch“. Ich hinkte als „Uncle Sam“ mit Gipsbein voran. Die Situation war brenzlig. An jenem Wochenende fand gleichzeitig die große Demonstration in Brokdorf gegen das geplante AKW statt. Wenn die Polizei dort eingriffe, würden im Gegenzug die Rosenmontagszüge im Rheinland gestört, hatten AKW-Gegner*innen gedroht. Radiomeldung aus Brokdorf: Wasserwerfereinsatz. Die Staatsmacht rüstete auf. Entlang des Zugwegs war in den Seitenstraßen ein massives Aufgebot an Wannen (nicht die von Beuys mit Wundpflastern beklebten, sondern vollbesetzt mit Grünhelmen) postiert. An der Friedrichstraße unter dem LVA-Hochhaus wurde der Jubel-Burger gestoppt. „Tschibbi“ zog das mit Atomraketen gespickte Monstrum unerschrocken bis vor die Absperrgitter, die die Polizei quer über die Straße gezogen hatte. Als Sparringpartner von Beuys war er bestens in verbaler Konfrontation und geistigem Schlagabtausch trainiert. Im „Brennpunkt Düsseldorf“-Katalog (AK Kunstmuseum Düsseldorf; 1987) ist er auf Seite 133 in heftigem Disput mit dem Filzhutmann zu sehen (siehe Abbildung). Doch deutsche Obrigkeit steht nicht auf demokratischen Diskurs. „Brenzlige Situation, brenzlige Situation!“, zischte ein Uniformierter ins Walkie-Talkie (so hießen damals die Mobiles, etwa von der Größe eines mittleren Dinosauriers). Ein Mannschaftswagen preschte heran, grün Behelmte sprangen mit gezückten Gummiknüppeln heraus. Zwei als CIA-Agenten Kostümierte mit Trenchcoat und Schlapphut, die wir zur Absicherung der US-Wahlparty abkommandiert hatten, holten ihre Kameras heraus. Im Nu machte deutsche Staatsmacht in Kampfmontur Jagd auf die fliehenden CIA-Agenten. Auf deutscher Seite schien großes Interesse an dem Negativmaterial der CIA zu bestehen. Der EXPRESS brachte einige Zeilen über die polizeiliche Behinderung der Rosenmontags-US-Wahlparty. In „Community Murals“, dem Magazin der US-amerikanischen Wandmalbewegung, erschien im Herbst 1982 ein mehrseitiger Bericht über die Wandmalgruppe, unter anderem mit einer Abbildung des „McRonald‘s“. Der war da in guter Gesellschaft mit Abbildungen von Wandbildern aus Chicago und Illinois, die sich gegen die massiven „social cuts“ der Reagan-Administration richteten. (Das Heft hat mittlerweile Sammlerwert; im Internet wird es für stolze – „buy used“ – 57,50 $ angeboten). Die bissigen Wagen wurden Tradition. 1984 kam die „Schüler- und Lehrerinitiative für Frieden“ gleich mit einer fertigen Idee. Wir zogen dann – Motto: „Für uns Kaviar, für Euch Kohl!“– als champagnertrinkende Unternehmer*innenschaft dem Zoch voran. „Sozialabbau helau!“, „Armut schändet nicht“, stand auf den Schildern. Das Düsseldorfer CC (Comitee Düsseldorfer Karneval e.V.) begann den talentierten Kommunikationsdesignstudenten Jacques Tilly anzufeuern: „Härter! Härter!“. Seine Wagen für den offiziellen Zoch gewannen tatsächlich an Biss. Und 2016 erhielt auch er einen mehrspaltigen Artikel in einem US-Medium (New York Times). Ohne „Tschibbis“ energischen Diskursversuch mit der Staatsmacht anno 1981 hätte der EXPRESS sicherlich keine Zeile geschrieben. Und ohne den wäre der jecke Protest sicherlich bald eingeschlafen.
„Tschibbi“ war damals eine Lokalgröße. Er kellnerte auf der Ratinger Straße – jeweils in speziellem Outfit: Im „Einhorn“ mit Latzhose und eingesteckter UZ, im „Ratinger Hof“ in rotem Blouson mit aufgenähten DKP-Initialen. Und mit eben diesem Blouson ist er im „Brennpunkt Düsseldorf“-Katalog abgebildet. Nach seiner Zeit bei der DKP war er bei den Grünen, ist seit März Mitglied von DIE LINKE. Seine Kommentare zur Tagespolitik – „Tschibbis Senf“ – in Form von Text- und Bildmontagen waren kürzlich in „The Box“, der Galerie auf der Duisburger Straße zu sehen.
Wie steht‘s aber nun mit den braunen Flecken auf der beuysschen weißen Anglerweste? Ich rief „Tschibbi“ an. Dass Beuys Kontakte zu alten SS-Kameraden pflegte, sei bekannt. Aber genauso vorbehaltlos habe er mit damaligen Maoist*innen wie Felix Droese oder Jörg Immendorf disputiert. Die hatten im Eingangsbereich der Akademie eine riesige Pinnwand der „Liga gegen den Imperialismus“ installiert, erinnert sich „Tschibbi“. Sein rotes DKP-Blouson und seine Mitgliedschaft in der Partei sei bei den heftigen Disputen nie Thema gewesen. Beuys habe stets den direkten Dialog mit allen gesucht, politisch etwas naiv vielleicht. Ein ausgeprägtes politisches Bewusstsein ist tatsächlich das letzte, was Beuys nachgesagt werden kann.
Was aber Beuys bewirkte, war ein Urknall an der Akademie: Ein Professor, der den Mund aufmacht, der dem Wissenschaftsminister die Stirn bietet, ist in Deutschland wahrhaftig eine Rarität! In Folge rebellierten Studierende en masse, nicht nur gegen Professor*innen und Ministerialerlasse, sondern auch gegen Beuys selbst mit seiner verschwiemelten Rudolf-Steiner-Schwärmerei. Alles geriet in Bewegung. Stephen Reader, der sich 1972 an der Akademie immatrikulieren wollte, war per Zufall in die Sekretariatsbesetzung geraten. „Geh zu dem Mann mit Hut! Der gibt Dir die Unterschrift“, wurde ihm gesagt. Stadtveränderung braucht mehr als einen Hauch Schamanismus. Als Reader Mitte der 1980er Jahre zum Motor bei der Umwandlung des Bilker Jagenberggebäudes in Atelierraum wurde, hieß die Inspirationsquelle nicht Beuys, sondern es waren konkrete Modelle in Großbritannien, die er zu erkunden begann. Als die Landesentwicklungsgesellschaft (LEG) den Umbau des Salzmannbaus projektierte, konnte er dann die britischen Erfahrungen bei der Umwandlung von Fabrik- und Verwaltungsgebäuden in Atelierraum einbringen. Aktuell ist Reader aktiv in seinem „Public Private“-Projekt, das er in einer in der Weimarer Republik erbauten Siedlung (jetzt Städtische Wohnungsgesellschaft Düsseldorf, SWD) in Bilk initiiert hat. Das Öffentliche und Private – in welcher Beziehung stehen sie zueinander?
Dass es zuweilen recht unappetitlich war, was dem Filzhutmann so aus dem Mund flockte, ist nicht zu leugnen. So gab er mal zum Besten, wir würden „heute Auschwitz in seiner zeitgenössischen Ausprägung erleben“. Dieses Mal würden „Körper von außen konserviert (kosmetische Mumifizierung), nicht vernichtet.“ Dafür werde anderes ausgemerzt: Talent und Kreativität z. B., „eine Art Hinrichtung im geistigen Bereich, eine Atmosphäre der Furcht wird geschaffen, die durch ihre Subtilität eher noch gefährlicher ist.“
Die Französin Barbara Catoir machte in der FAZ zu Beuys‘ 100. Geburtstag einen brillanten Vorschlag: Einfach Ton abschalten! Sie kann sich dabei auf Beuys selbst berufen, den sie mit den Worten zitiert: „In diesem Konzept der Gegenstände spreche nicht ich, sondern die Dinge haben ihre eigene innere Sprache.“ Die von ihm geschaffenen Bilder sind tatsächlich von großer Tiefe. Catoir zitiert Didier Sémin, der 2008 als Professor an der École Supérieure des Beaux-Arts in Paris die Auftritte von Beuys mit Szenen aus den frühen Filmen Tarkowskis verglich. Catoirs Artikel: „Parallele Universen“ war am 12. Mai mit zwei großformatigen Fotos bebildert. Das obere trug die Bildunterschrift: „Guter Hirte in Filz: Beuys und Kojote in der Aktion ‚I like America and America likes me‘, 1974.“ Zu dem unteren hieß es: „Gefährdete Gefährten: Filmstill aus Andrej Tarkowskis ‚Stalker‘ von 1979.“ Zu sehen ist ein an einem stillen oder fließenden Gewässer zusammengekauert liegender Mann; neben ihm ein achtsam wachender Schäferhund.
Im Internet stieß ich auf einen Clip, bei dem mit dem Tipp „Ton abschalten!“ Ernst gemacht wurde („The Thing About...Art & Artists - Joseph BEUYS“). Eingangs drei Sätze von Beuys vor laufender Kamera. „Not only painters, sculpturers and musicians are artists“, sagt er. „Everybody‘s ability to think, to feel, to suffer and will something“ bedeute für ihn, dass sie die Qualität haben, Künstler zu sein. „So everybody is an artist.“ Es folgt der Schwarzweißfilm. Knapp als Text eingeblendet die Stationen der Anfahrt: „In May 1974 Joseph Beuys arrives at J.F.K Airport“ – „He keeps his eyes shut and is then totally covered with felt“ – „He is put into an ambulance“ etc. Die Tonspur ist gelöscht. Stattdessen läuft während der Dauer des Clips Jimi Hendrix Woodstock-Version der US-Hymne, bei der er Vietnam in beklemmender Weise auf seiner E-Gitarre Realität werden lässt, Granatenexplosionen, Stukaangriffe, Maschinengewehrsalven inklusive.
Lediglich auf dem „Kunst im Unterricht“-Internetportal stieß ich auf eine qualifizierte Sachdarstellung der Kojote-Aktion. Die Schülerin „Anna Müller“ beschreibt knapp die Anfahrt von Beuys zur Galerie René Block am Broadway, schildert dann: „In einem separaten Raum wurde er, zusammen mit einem amerikanischen Kojoten, namens ‚Little John‘, für die Dauer von 3 Tagen und 3 Nächten eingeschlossen. In diesem Raum ordnete er täglich die neueste Ausgabe des Wall Street Journal und stapelte Filzbahnen. [...] Zu Beginn war der Kojote aggressiv und verunsichert. Aber durch die längere Zeit, die er mit dem Künstler verbrachte, fasste er immer mehr Vertrauen zu dem Menschen und näherte sich diesem an. Die Beziehung wurde immer inniger. Beuys legte sich auf das Strohlager, das eigentlich für den Kojoten vorgesehen war, und das Tier dagegen schlief auf den Ausgaben des Wall Street Journal.“ Die Schülerin schließt den Bericht mit den Zeilen: „Zum Abschluss der Aktion ließ er sich, wie bereits zu Beginn, wieder in Filz einwickeln und im Krankenwagen zum Flughafen bringen.“
Warum wurden jeden Morgen frische Ausgaben des Wall Street Journals in den Drahtverhau gelegt? War dies eine Anspielung auf die nicht nur an der Wall Street, sondern in ganz Manhattan grassierende Grundstücksspekulation? 1971 hatte Hans Haacke diese im Guggenheim thematisieren wollen. Die Ausstellung wurde von der Museumsleitung kurzfristig abgesagt oder um‘s auf „russisch“ zu sagen: brutal zensiert. Wollte Beuys womöglich mit seiner Koexistenz mit dem Kojoten aufzeigen, dass es auch andere Umgangsformen gibt, als Büffel, Ureinwohner*innen, Kojoten abzuknallen bzw. Schwarze und Latinos durch Grundstücksspekulation aus ihren Stadtvierteln zu vertreiben? Stellt man bei Beuys den Ton ab (auch die Kommentare von Kunstwissenschaftler*innen, -historiker*innen und -didaktiker*innen), können tatsächlich interessante Gedanken in einem*einer aufsteigen.
Thomas Giese