Neues vom Verfassungsschutz: Marx als Linksextremist

Wo Marx draufsteht, droht Beob­achtung? So ergeht es derzeit der Tageszeitung „junge Welt“.
Ein Kommentar zur Beobachtung von Zeitungen, Verlagen und Medienprojekten durch den Verfassungsschutz.

Anfang Mai wurde im Bundestag über den Schutz von Pressefreiheit und Medien debattiert. Dass für die Pressefreiheit von linken Medien ein anderer Maßstab angelegt wird, zeigt das jüngste Beispiel der Tageszeitung „junge Welt“, die unter Beobachtung durch den Inlandsgeheimdienst. Wohlgemerkt einer Beobachtung, die seit Jahren andauert.

Die Praxis, linke Medien mit dieser Form der Repression zu belegen, ist kein alter Schlapphut. So waren in der Vergangenheit auch hiesige Verlage, Medien-, Presse- und Bildungsprojekte im Visier der Dienste. Im NRW-Verfassungsschutzbericht von 2008 tauchten etwa die Zeitung LOTTA oder der Münsteraner Unrast-Verlag auf, auch die TERZ: in der Rubrik „Diskursorientierter Linksextremismus“. Die LOTTA setzte im Frühjahr 2009 vor dem Verwaltungsgericht Düsseldorf die Streichung ihrer Nennung durch (LOTTA #35, Sommer 2009). Die TERZ ergänzte eine eigene Eingabe und verschwand daraufhin ebenfalls aus dem VS-Bericht 2008 (TERZ 07/08.2009). Der Versuch, Verlagen und Zeitungen „verfassungsfeindliche Bestrebungen“ anzuhängen, war gescheitert. „Eine Schlappe für die Schlapphüte“, wie LOTTA damals schrieb. Aber das heißt nicht, dass die Misere mit dem VS damit vorbei ist. Im Gegenteil. Die TERZ veröffentlicht einen Gastkommentar.

Beobachten, um zu Beobachten

Die diesjährige Debatte des Deutschen Bundestags über die Pressefreiheit kam auch auf die Beobachtung der linken Tageszeitung Junge Welt (jW) durch den Verfassungsschutz zu sprechen. Sie fand mit einer Stellungnahme des Bundesinnenministeriums einen aufschlussreichen Abschluss: Der Parlamentarische Staatssekretär Günter Krings verteidigte – nach einer Anfrage der Linken – diese Überwachungspraxis. Die Stellungnahme, die in der Öffentlichkeit kaum beachtet wurde, birgt eine interessante Klarstellung. Vor allem wegen zwei Dingen.

Wo der Extremismus beginnt

Erstens wird mit dieser Beobachtung, die seit mehreren Jahren erfolgt und die für die „junge Welt“ (jW) negative wirtschaftliche Folgen hat, der Aufgabenbereich des deutschen Inlandsgeheimdienstes in bemerkenswerter Weise ausgedehnt. Laut Verfassungsschutzgesetzgebung sollen Organisationen beobachtet werden, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung bekämpfen. Das – teils jahrelange – Zögern der Behörden, Bewegungen wie etwa PEGIDA in diesem Sinne als Beobachtungsobjekt einzustufen, ist ja bekannt. Bei der jW handelt es sich nun offenkundig nicht um eine Organisation. Das Innenministerium nimmt dies auch einerseits zur Kenntnis, wertet aber andererseits die Tatsache, dass sich die jW-Redaktion auf die Marxsche Theorie beruft und dementsprechend vor allem Autor*innen aus dem linken Spektrum zu Wort kommen lässt, als „Aktionsorientierung“. Dadurch werden Redakteur*innen, Autor*innen und Leser*innen/Abonnent*innen gewissermaßen als ein einheitliches, zumindest vernetztes, tendenziell verfassungsfeindlich agierendes Kollektiv in Haftung genommen, obwohl hier von einem Organisierungs- oder Vereinheitlichungsprozess keine Rede sein kann. Jedenfalls muss man festhalten, dass bereits der Diskussionsprozess, der an den Marxismus anknüpft, vom Verdikt des Extremismus getroffen werden soll.

Zweitens wird die Verfassungsfeindlichkeit inhaltlich begründet, und zwar mit der Bezugnahme dieses Diskussionsprozesses auf die marxistische Theorietradition. Marxist*innen hätten die Absicht, so das Bundesministeriums des Innern, „nicht nur zu informieren, sondern eine ›Denkweise‹ herauszubilden, um bei den Bevölkerungsgruppen, die sie als Unterdrückte oder Ausgebeutete identifizieren, Verständnis und die Bereitschaft zum Widerstand hervorzurufen“. Die vermeintliche Verfassungsfeindlichkeit des Marxismus wird dabei paradigmatisch – und angesichts der allseits konstatierten Erfahrungen sozialer Ungleichheit wohl auch nicht ganz zufällig – am Begriff der Klassengesellschaft festgemacht. Laut Innenministerium „widerspricht die Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit der Garantie der Menschenwürde. Menschen dürfen nicht zum ›bloßen Objekt‹ degradiert oder einem Kollektiv untergeordnet werden, sondern der einzelne ist stets als grundsätzlich frei zu behandeln.“ Also ist über die Diskussion hinaus bereits die theoretische Grundlage ein Fall für den Verfassungsschutz (VS).

Redaktionelle Verantwortung: neu gefragt

Was müssen nun Redaktionen von Zeitungen und Zeitschriften in Zukunft beachten? Beispielhaft könnte man die letzte Veröffentlichung des Armutsforschers Christoph Butterwegge, Mitglied im Gutachtergremium des neuen Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung, zur „Ungleichheit in der Klassengesellschaft“ (2020) nehmen. Butterwegge hat in der jW eine Kurzfassung seiner Ungleichheits-Studie veröffentlicht. Nach den Klarstellungen des Innenministeriums müssen Redakteure und Redakteurinnen jetzt in doppelter Weise auf der Hut sein:

Formal wäre Butterwegge als jW-Autor ein Fall für die vom VS inkriminierte Strategie des Blattes, auf die Öffentlichkeit einzuwirken; er vertritt dort „eine bestimmte inhaltliche Linie“, die die „Meinungsbildung der Bevölkerung“ beeinflussen will (dies sind die vom Bundesministerium des Innern benannten linksextremistischen Merkmale), und trägt das sogar in andere Medien. Inhaltlich würde es ebenfalls zutreffen, denn Butterwegges letzte Publikation bezieht sich explizit auf die Diagnose der Klassengesellschaft, der aktuelle Relevanz zugesprochen wird.

Der Verfassungsschutz setzt dabei eine Linie fort, die er bereits vor Jahren einschlug. Der Marxismus wurde, so zum Beispiel vom VS-Experten Armin Pfahl-Traughber, als verfassungsfeindliches Programm identifiziert, und zwar im Blick auf den Modus der Rezeption: Wer Marxens Ausführungen für richtig hält, ist ein*e Extremist*in und wird damit tendenziell aus dem öffentlichen Diskurs ausgegrenzt; wer sich aus einer Distanz heraus auf die Theorie bezieht und sie weiterentwickelt, revidiert, kritisiert etc., darf das ungehindert tun.

Das jüngste Beispiel für den expansiven Kurs des VS, die Meinungsbildung unter Kontrolle zu bringen, war übrigens die Konstruktion eines neuen extremistischen Tatbestands, nämlich die „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“. Sie wurde zur Überwachung der „Querdenker*innen“-Szene erdacht. Man sieht, die Zulassungsbedingungen zum öffentlichen Diskurs werden neu geregelt – und das zu einem Zeitpunkt, wo Deutschland lautstark die Unterdrückung der Pressefreiheit in anderen Ländern wie China oder Russland anprangert. Bleibt die Frage, was man als Aufklärung über gesellschaftliche Sachverhalte heute noch sagen darf, ohne ins extremistische Fahrwasser und damit ins Visier des hochgerüsteten deutschen Sicherheitsapparates zu gelangen.

Johannes Schillo

[1]  „Doppelte Standards“ (jW-Artikel vom 8. Mai 2021, zu lesen unter: https://jungewelt.de/artikel/402169.junge-welt-und-verfassungsschutz-doppelte-standards.html
[2]  Vgl. „Marx als Linksextremist“, in: J. Schillo, Zurück zum Original, 2015, S. 87ff