Pazifismus-Interview

„Es geht nicht darum, sich der Gewalt passiv zu beugen“

Stell dir vor es ist Krieg und niemand redet vom Pazifismus – oder nur in denunziatorischer Absicht. Genau das passiert heutzutage angesichts von Russlands Angriff auf die Ukraine. Friedensaktivist*innen gelten als fünfte Kolonne Putins und müssen sich als Lumpen-Pazifist*innen beschimpfen lassen. Die TERZ sprach mit Peter Bürger von der katholischen Friedensbewegung über die Zeitenwende.

TERZ Es gibt einen Krieg, eigentlich müsste das die Hochzeit des Pazifismus sein, aber das ist nicht der Fall. Er ist in der Defensive. Wolfgang Thierse schrieb etwa: „Wer als Pazifist angesichts der Bilder aus der Ukraine ohne Selbstzweifel, ohne Irritation bleibt, hat wohl kein empfindliches Herz“. Kannst Du die Kritik nachvollziehen?
Peter Bürger Die kann ich in keiner Weise nachvollziehen. Als Russland den Angriffskrieg begann, war ich gerade dabei, ein Buch zu setzen über den Friedensaktivisten Ulrich Frey[1], und da trat es mir noch einmal klar vor Augen, mit welcher Beharrlichkeit über drei Jahrzehnte hinweg – in diesem Fall aus der evangelischen Friedensarbeit heraus – immer wieder für eine neue europäische Weltpolitik gestritten wurde. Und jetzt heißt es, dass die Pazifisten, die zeitig eine andere Logik der Weltgesellschaft eingefordert hatten, die Verantwortlichen für die Kriege sein sollen. Das ist demagogisch. Nach allem Scheitern der Kriegsapparatur – zwei Jahrzehnte Afghanistan – findet kein Nachdenken statt. Schon ein Jahr später darf das Militär wieder zur Heilsrettung empfohlen werden. Und ein zweiter Punkt, mit allem Vorbehalt formuliert von jemandem, der die Sache von außen betrachtet und nicht im angegriffenen Land sitzt: „Mir erschließt sich nicht, warum die Waffenlieferungen, die den Krieg verlängern und verschlimmern, eine Form der Empathie und Solidarität sein sollen.

TERZ Ich glaube, der Pazifismus ist in Schwierigkeiten, weil der Krieg als einer von David gegen Goliath, von einem Kleinen gegen einen Großen wahrgenommen wird, und die Friedensbewegung ist dem Kleinen gegenüber nicht solidarisch, weil sie die Waffenlieferungen nicht will.
Peter Bürger Das Dogma ist ja, dass die einzige Form der Solidarität darin besteht, sich in die Kriegslogik hineinzubegeben. Das ist das Ende einer klaren pazifistischen Analyse, das ist eine Selbstaufgabe des Pazifismus, die sich mir nicht erschließt.

TERZ Hans-Joachim Schramm von der „Deutschen Friedensgesellschaft“ hat auf seiner Rede beim Ostermarsch in Düsseldorf insistiert: „Wir sind nicht aus der Zeit gefallen“, aber er sagte ebenfalls: „Auch wir haben Fehler gemacht“. Die katholischen Pazifisten von Pax Christi haben in ihrem Statement zum Krieg in Bezug auf Russland eingeräumt: „Wir haben uns geirrt“ und in dem kurz vor dem Angriff veröffentlichten Aufruf „Friedenspolitik statt Kriegshysterie“ hieß es noch: „Trotz der Militärmanöver in der Nähe der Ukraine hat Russland kein Interesse am Krieg“. Siehst auch Du Fehler der Friedensbewegung in der Einschätzung Russlands oder generell?
Peter Bürger Ich habe Ende letzten Jahres die Situation überhaupt nicht richtig wahrgenommen. Ich bin wirklich davon ausgegangen, dass keine Angriffsvorbereitungen laufen. Und das ist ja selbstverständlich, dass man da sagt: Das haben wir nicht richtig gesehen. Was man rückblickend auch sagen muss, ist, dass man vielleicht nicht immer richtig gewichtet hat, was die Politik der Putin-Administration angeht, denn die Kriegspolitik zieht sich ja schon durch zwei Jahrzehnte hindurch. Das ändert nichts daran, dass ich glaube, dass dieser Angriffskrieg zu verhindern gewesen wäre.

TERZ Der Pazifismus hat christliche Wurzeln. Gleichwohl sprechen sich auch viele Kirchen-Vertreter für Waffenlieferungen aus. Oft wird da mit der „Zwei Reiche“-Lehre argumentiert: Als persönliche Existenzform ist der Pazifismus legitim, nicht aber als politische Theologie. Als Einzelner darf man gerne auch die linke Wange hinhalten, wenn man auf die rechte geschlagen wird, aber es wäre anmaßend, das auch von anderen, gar von ganzen Nationen zu verlangen. Man müsste da differenzieren. Wie siehst Du das?
Peter Bürger Also das ist ja seit Max Weber ein ganz beliebtes Motiv: Die Bergpredigt ist für individuelle Seligkeit und die Befriedigung der eigenen Moral da, während die Welt, so wie sie ist, anders geordnet werden muss. Das ist ein Ansatz, der mir komplett fern liegt, weil ich den christlichen Pazifismus in der Folge von Jesus von Nazareth nie als eine individuelle Erbaulichkeitsstrategie angesehen habe. Man könnte biblisch ausholen und fragen: In welcher Zeit lebte Jesus? Da gab es eine römische Besatzung, und es ist völlig klar, dass Teile seiner Bergpredigt und seiner sonstigen Verkündigung auf den Umgang auch mit dieser Besatzungsmacht zielen. Ein Beispiel: Wenn ein Besatzungssoldat kommt und dich zwingt, ihm eine Meile sein Gepäck zu tragen, dann trägst Du es freiwillig zwei Meilen. Das sind Elemente eines aktiven, gewaltfreien Widerstehens, wo die eigene Würde bewahrt wird – die zweite Meile gehe ich freiwillig – und dem Soldat seine Funktion als Besatzer des Landes gespiegelt wird. Noch weitergehender: Ich hatte die Freude, 2016 die deutsche Sektion von Pax Christi auf einem Treffen der internationalen katholischen Friedensbewegung „Non Violence“ vertreten zu dürfen, und dort wurde mir vor Augen geführt, in wie vielen Ländern gewaltfreie Strategien in politischen Dimensionen umgesetzt werden, in Mexiko, auf den Philippinen, auch in Europa, die irischen Frauen zum Beispiel. Aber diese Strategien müssen natürlich vorbereitet und trainiert werden. Genauso wie Rüstung und Krieg vorbereitet wird, muss intelligente gewaltfreie Strategie umgesetzt werden. Es geht nicht darum, sich der Gewalt passiv zu beugen und in eine Opferrolle reinzugehen, sondern es geht darum, wie dem Unrecht und der Gewalt auf eine erfolgreiche Weise Widerstand geleistet wird.
Das betrifft jetzt erst einmal einzelne Schauplätze, ist aber zugleich eine Zivilisationsperspektive. Wenn jetzt eine Zeitenwende ausgerufen wird, bedeutet das nichts anderes, als dass alle Überlegungen, nach dem Ende des Kalten Krieges eine Zivilisation, die nicht militärisch geordnet ist, aufzubauen, zunichtegemacht werden sollen. Mit Blick darauf ist eine gewaltfreie Strategie, die sich aus christlichen oder auch anderen Quellen speist, wirklich als ein alternatives Zivilisationsmodell anzusehen. Und ich bin der Meinung: Entweder es geht in die Richtung oder wir kommen in zivilisatorische Phasen rein, wo der Tod kein Ende haben wird.

TERZ Pazifismus ist also nicht einfach Duldsamkeit. Pax Christi spricht von aktiver Gewaltfreiheit und zivilem Ungehorsam, andere von sozialer Verteidigung. Der Pazifismus verfügt offensichtlich über Mittel. Aber was wären jetzt konkret auf die Ukraine bezogen die Mittel? Könntest Du das sagen oder wärst Du da überfordert?
Peter Bürger Es gibt im Moment keine einfachen Antworten. Es wäre sehr anmaßend, in der jetzigen Situation einen Instrumenten-Kasten zu präsentieren. Eine solche Form der sozialen Verteidigung, wie sie dem Bund für soziale Verteidigung vorschwebt, erfordert eine Stärkung der gesamten Gesellschaft und auch ein Training. Und jetzt in dieser Angriffssituation mit Ratschlägen zu kommen, geht nicht so einfach.
Das Schlimme ist allerdings, dass im Grunde genommen die gesamten letzten anderthalb Jahrzehnte vertan worden sind. Es ist zwar hochgerüstet worden, es ist auch in der Ukraine mit westlicher Hilfe hochgerüstet worden, aber Strategien des aktiven, gewaltfreien Widerstehens sind nicht trainiert worden, obwohl das Land in dieser Hinsicht, wie wir jetzt sehen, über große Ressourcen verfügt und sich in der Kriegssituation so fähig zeigt, sich zu vernetzen. Wobei man sagen muss: die Nachrichten über ein entsprechendes Verhalten der Bevölkerung in ganz vielen Städten, die sind schon unglaublich, Menschen etwa, die sich den Soldaten unbewaffnet entgegenstellen und sagen: „Geht nach Hause!“
Was nicht geht: Jedes Mal, wenn die Hochrüstung und eine konfliktive Politik zu einer Gewalt-Explosion führt, zu sagen: Die Alternativen, die der Pazifismus anbietet, funktionieren nicht. Sie sind nie vorbereitet worden! Die Milliarden laufen in die Kassen der esoterischen militärischen Heilslehrer. Und das funktioniert ja nun nachweislich auch nicht. Wenn wir für zwei Jahrzehnte Afghanistan-Krieg jetzt eine Evaluation machen, dann wird die Bilanz erschreckend sein. Man wird zum zigsten Mal sehen, dass die militärische Heilslehre nur Bedingungen schafft, die schlimmer sind als die am Ausgangspunkt. Wir haben zurzeit in Afghanistan zwölf Millionen Menschen, die von Hunger bedroht sind, bei einer Bevölkerung von rund 34 Millionen.
Nach dem Genozid von Rhuanda gab es hingegen auf UN-Ebene durchaus Konzepte, wie man so etwas in Zukunft verhindern könnte, aber das hat nicht zu einem Frühwarnsystem geführt. Es ist nichts aufgearbeitet worden. Seit 1994 ist eine solche Schutzverantwortung – die responsibility to protect – nur instrumentell benutzt worden, um militärisches Agieren zu rechtfertigen. Die Alternativen sind nie entwickelt worden, es gibt dafür auch kein Budget.

TERZ Mich wundert die Aggressivität, mit der auf den Pazifismus losgegangen wird: da ist von Lumpen-Pazifismus die Rede oder von der fünften Kolonne Putins ...
Peter Bürger Das zeugt ja nicht unbedingt von einem großen Selbstbewusstsein dieser Akteure, die seit Jahren keine anderen Konzepte als eine militärische Weltordnung vorschlagen. Man muss dazu nur die Budgets angucken, die für internationale Kooperation da sind, und im Vergleich dazu die Militär-Budgets. Was haben die anzubieten, die zurzeit mit einer solchen Arroganz sich hinstellen als Menschen-Verteidiger, weil sie die Lieferung von schweren Waffen mit einem hohen Eskalationspotenzial befürworten? Was übrigens billig ist: Keiner von denen, die politisch jetzt mit Waffen-Lieferungen agieren, muss irgendetwas in die Waagschale werfen! Trotzdem werfen sie gerade den Pazifisten vor, sich auf eine Zuschauer-Rolle zurückzuziehen.
Und man muss sich auch fragen, ob hier die Bevölkerung der Ukraine nicht vielleicht für politische Zwecke instrumentalisiert wird. Stellvertretend sollen sie möglicherweise noch Monate die sogenannte Freiheit verteidigen und dabei dann einen Blutzoll erbringen, der eventuell – Gott behüte, dass es so kommt – in die Hunderttausende geht wie es auf den Kriegsschauplätzen der letzten anderthalb Jahrzehnte der Fall war. Hunderttausende in Afghanistan, dreihunderttausend im Jemen. Das sind unglaubliche Dimensionen. Und Anliegen der pazifistischen Bewegung ist, dass wir diese Leidensdimension in diesem Konflikt jetzt nicht erreichen.

TERZ Es gibt im Moment auch keinerlei diplomatische Anstrengungen, niemand bringt sich als Vermittler ins Gespräch ...
Peter Bürger Das geht auch nicht. Wenn signalisiert wird: Wir haben auf der Gegenseite das absolut Böse, und das muss vernichtet werden, in Russland wollen wir einen regime change haben – wenn ich rhetorisch diese Linie fahre, dann ist völlig klar, warum es nicht zu diplomatischen Anstrengungen kommt. Man muss jetzt, damit die Waffen schweigen, tatsächlich die russische Seite als Verhandlungspartner akzeptieren. Und was das Widersinnige ist: Man muss sogar den Aggressor auf eine Weise belohnen. Jedem dreht sich der Magen um, aber das sind die Realitäten, um eine weitere Eskalation auszuschließen und um Menschenleben zu retten.

TERZ Das zentrale Argument gegen den Pazifismus ist ja immer der Faschismus: Hitler konnte man nur militärisch besiegen.
Peter Bürger 1945 wollte man mit der Gründung der Vereinten Nationen einen Neuanfang wagen. In der Präambel ist der Vorsatz formuliert, die Menschheit von der Geißel des Krieges zu befreien. Und dieser Neuanfang hätte bedeutet, dass wir Instrumentarien entwickeln, um Faschismus und Genozid auf eine andere Weise zu verhindern als durch Massenbombardements. Und mit Blick auf den vom deutschen Faschismus verübten Genozid muss man sagen: die Rettung der vom Genozid Bedrohten ist kein Kriegsziel gewesen. Die Hilferufe sind verpufft, es kam keine konkrete Hilfe. Es sind ja noch nicht einmal die Flüchtenden aufgenommen worden.

TERZ Es gab immer Forderungen, die Zufahrtswege zu den KZs zu bombardieren, aber das ist nicht geschehen.
Peter Bürger Ich sage jetzt mal etwas, was vielleicht anfechtbar ist, aber ich sage es trotzdem sehr kategorisch: Wer der Kriegsapparatur glaubt, dass sie Menschenleben retten will, der ist verraten und verkauft. Ich bin der Meinung, dass die real existierenden Budgets auf dem Globus das beweisen können, denn das Minimum, das man erwarten könnte, wenn es dieses vorgebliche menschenfreundliche Ziel der Militärapparatur wirklich gäbe, wäre ja, dass die Entwicklungsbudgets, die Budgets zur Bekämpfung des Hungers, für Gesundheitsleistungen mindestens genauso groß wären. Das ist aber nicht der Fall. Die globalen Budgets, um Menschenleben zu retten, um Gesundheit zu erhalten, um Leben zu erhalten, die sind Portokasse, gemessen am Weltrüstungsbudget. Und so materialistisch muss man da rangehen und sagen: Das sind eure vorgeblichen Ziele, und das ist die reale Kassen-Aufteilung. Und wer dann dem herrschenden Militärordnungssystem noch glaubt, dass es Menschenleben retten will, der verfügt nicht über genügend Verstand.

TERZ Eigentlich gab es nach 1989 die besten Voraussetzungen für eine friedliche Weltordnung, weil sich nicht mehr zwei sich heftig befehdende ideologische Systeme gegenüberstanden. Aber daraus erwuchs nur eine neue Weltunordnung.
Peter Bürger Die, die die Welt für alle Zukunft in imperialen Blöcken ordnen wollen, nennen das nicht Weltunordnung, sondern Ordnung in unserem Interesse. Und das ist das, was im Moment stattfindet, wo die Ukraine auch eine Stellvertreter-Funktion hat. Zivilisatorischer Pazifismus bedeutet aber, dass wir von diesem Modell, dass es imperiale Zentren gibt auf diesem Globus, komplett Abschied nehmen, denn eine rationale Analyse – auch aller Zukunftsforschung – hält fest: Die Menschheit hat nur ein Schicksal, entweder sie geht gemeinsam in ein Äon unvorstellbarer Barbarei oder wir kommen jetzt in ein neues Zivilisationsstadium, das dem der Imperien nicht entspricht, nämlich dem der Kooperation. Unter den Bedingungen einer militärischen Weltordnungsideologie kann diese kulturelle Revolution nicht stattfinden. Da muss eine positive Kraft dahinterstehen, weil sonst nicht genug Energie da ist. Aber all das wird zurzeit abgestoppt. Das, was im Deutschen Bundestag mit der Erhöhung des Wehretats gemacht wird, bedeutet ja nicht nur, dass wir hier im Lande soziale Verwerfungen bekommen werden. Diese enormen Investitionen sind Schulden für die zukünftigen Generationen. Es hat auch globale Auswirkungen. Alle Lebensperspektiven für zivilisatorische Prozesse werden abgebrochen, alle Strukturen der Kommunikation und Zusammenarbeit, die man bräuchte, um beispielsweise die ökologische Frage zu lösen, werden durch dieses neue Kriegsdenken unmöglich gemacht. Und das scheint mir der größte Skandal, dass dieser Konflikt, der verhinderbar gewesen wäre, jetzt missbraucht wird für eine Zukunftsspur des Todes.

[1]  Ulrich Frey: Texte zur Friedensarbeit aus drei Jahrzehnten, Hg. Gottfried Orth, 452 Seiten, Books on Demand, ISBN 978-3-7543-8569-2