Rückkehr der reitenden Leichen und ein Schlossgespenst

Am Burgplatz spukt’s. Und dies schon seit über 400 Jahren.

In „Ideen. Das Buch Le Grand“, seinen autobiographischen Skizzen, erwähnt der Dichter Heine „das alte, verwüstete Schloss, worin es spukt und Nachts eine schwarzseidene Dame ohne Kopf, mit langer, rauschender Schleppe herumwandelt.“ Bald zog ihn aber das Gebäude der Gemäldegalerie mehr in den Bann, „in dessen Untergeschosse so viele tausend mächtige Bücher standen.“ Als Knabe erkletterte er dort „täglich die höchsten Leitersprossen, und holte die höchsten Bücher herab, und las darin so lange, bis ich mich vor nichts mehr, am wenigsten vor Damen ohne Kopf, fürchtete, und ich wurde so gescheut, daß ich alle alte Spiele und Mährchen und Bilder [...] vergaß.“

War sein „Schelm von Bergen“, am 31. Mai 1846 in der Kölnischen Zeitung erschienen, ein Rückfall in die Zeiten der Romantik? Was war mit dem Dichter los? Krank? Altersmilde? Quatsch. Heine ist, wir könnten sagen, der Erfinder binärer Kampfstoffe in der Literatur. Er hatte es offensichtlich bewusst auf einen Crash zwischen romantischer Ballade und brutaler Realität angelegt. Denn wer in der Altbierstadt hätte bei der Geschichte von der Herzogin, die mit ihrem Scharfrichter tanzt, nicht an Jacobe von Baden und ihr Schicksal denken müssen? (zu Jacobe siehe TERZ 04.22) In der Ballade gibt’s im Gegensatz zur Realität ein Happy End. Die Verse erzählen, wie ein Scharfrichter die schwarze Scharfrichterkapuze – also seine Berufskleidung – mit einer schwarzen Samtmaske vertauscht, sich so ins Schloss einschmuggelt und beim höfischen Maskenball mit der Herzogin so manches Tänzchen tanzt. Die reißt ihm schließlich die Maske herunter. Ein Skandal: Sie hat mit einem Unehrenhaften getanzt und ist nun selbst entehrt. Der Herzog reagiert blitzartig, zückt sein Schwert und schlägt den Scharfrichter – zum Ritter. Denn mit einem Ritter zu tanzen, ist für eine Herzogin durchaus standesgemäß. Die Situation ist gerettet.

Der Schelm von Bergen – ein Hesse?

„Im Schloss zu Düsseldorf am Rhein/Wird Mummenschanz gehalten“, lauten die ersten Verse. Heine habe, so wird meist zur Ballade angemerkt, irrtümlich das Adelsgeschlecht der „Schelme von Bergen“, das im Hessischen seinen Stammsitz hat, mit dem der Grafen und Gräfinnen von Berg, die im Düsseldorfer Schloss residierten, verwechselt. Doch eine Verwechslung ist wenig wahrscheinlich. Er kannte die Sage gut. 1821, als Wilhelm Smets seine Version unter dem Pseudonym „Theobald“ in Druck gab, urteilte Heine über sie: „Der Stoff von Theobalds ‚Schelm von Bergen‘ ist wunderschön, fast unübertrefflich“, der Verfasser sei jedoch „auf falschem Wege, wenn er den Volkston durch holpernde Verse und Sprachplumpheit nachzuahmen sucht.“ Auch Simrock, den Heine persönlich kannte, schrieb eine Version. Alle Dichter siedelten die Sage im Hessischen an. Ausschließlich Heine verlegt sie ins Düsseldorfer Schloss. Warum? Nur die gewollte Verknüpfung mit dem Schicksal der Jacobe von Baden liefert hier eine plausible Erklärung. Zudem fällt auf, dass Heine die Geschichte im Karneval ansiedelt. In anderen Bearbeitungen ist nur von von einem Maskenball die Rede. „Es jubelt die Fastnachts-Geckenschaar“, heißt es bei Heine, und sogar aus der Domstadt ist Besuch angereist: „Der Drickes und die Marizzebill/ Grüßen mit Schnarren und Schnalzen.“ Spielte Heine damit auf Immermanns Novelle „Der Karneval und die Somnambule“ an, die zum Teil im Kölner Karneval spielt? Heine hatte sie einst lobend erwähnt: „Ihr Kölnischer Karneval hat mir viel Unterhaltung gewährt, und ich staune über Ihre Meisterschaft in der Prosa und im epischen Entfalten.“ (Brief an Immermann vom 10. August 1830) Immermann karikiert in jener Passage einen Politnarren, der von „Spaß an der Freud“ nix wissen will, die Narretei vielmehr als politisches Vehikel instrumentalisiert. „Ich bin Enthusiast; ich schwärme, ich rase für die gute Sache“, schwärmt der Narr sich in Rage. „Wir wirken, leben und sind jetzt nur durch Ideen, mit Ideen, in Ideen; die erhabenen Sterne der Gegenwart heißen Freiheit und Recht, Vernunft und Wahrheit […].“ Er gesteht: „Wahr ist es, ich bin Mitglied des Komitees; ich wohne allen Gelagen bei.“ Er ist ein wahrer Tausendsassa: „Ich helfe die Geckenzeitung redigieren; ich bin dem Scheine nach Geck, reiner Geck, nichts als Geck. Aber das alles ist nur Maske; unter derselben wirke ich für das Eine, was nottut.“ Er halte „als Hanswurst satirische Reden über Absolutismus; ich nehme diejenigen, denen ich Mißvergnügen ansehe, beiseite und sage ihnen, daß auch ich mit der Gegenwart nicht zufrieden sei. Ich spreche hauptsächlich gegen Rußland und dessen Einfluß.“ Sein Fazit: „Oh, ich werde noch ein Märtyrer meiner Überzeugungen werden!“

Hauptherd der Anarchie im Rheinland

Als „Hauptherd der Anarchie im Rheinland“ hatten preußische Behörden jedoch nicht Kölle, sondern Düsseldorf ausgemacht. Hier hatte sich die Lage dramatisch zugespitzt. Landrat Frentz hatte Karneval 1844 im Wirtshaus Cürten ein riesiges Gemälde (6 x 10 m), ein „Spottbild“, konfiszieren lassen. In den Akten findet sich eine Beschreibung. Besonders skandalös: „Rechts in der Ecke erscheint der deutsche Michel aus dem Schlafe erwacht, noch im Schlafrocke, in der rechten Hand eine Keule und in der linken Bomben-Kugeln.” Christina Frohn hat 1999 in ihrer Dissertation über den Karneval in Aachen, Düsseldorf und Köln u.a. den Politprotest dargestellt. Sie schreibt zu dem Vorfall: „Frentz war trotz der Ausreden von Cürten und Kleinenbroich, die versicherten, daß der Raum lediglich als Atelier diene und das Bild abends überhängt werde, davon überzeugt, daß das Gemälde abends in der Versammlung gezeigt werden sollte, und ließ es kurzerhand beschlagnahmen.“

Bereits Mitte Januar hatte Bürgermeister Fuchsius die fünf größten Düsseldorfer Karnevalsvereine angewiesen, „sich aller und jeder Anspielung und Witzelei politischen Inhalts zu enthalten, so wie alles zu vermeiden, was die Religion, gute Sitten und die den Privatpersonen schuldigen Rücksichten irgend verletzen können.“ Dem Regierungspräsidenten von Spiegel war zudem zu Ohren gekommen, daß auf einer Narrensitzung „der als radikal geltende Literat Karl Grün eine anstößige Rede gehalten hatte.“ Nach der Sitzung sei Grün von einem Militärmusikkorps ein Ständchen gebracht worden. Ein übler Verstoß: „Über den Dirigenten wurde eine Arreststrafe verhängt.“ Auf der Folgesitzung mahnte „Weiler II“ „die Offenlegung der Verhandlungen zwischen dem Vorsitzenden und der Behörde wegen des Vorfalls am 20. Januar“ an. Dies lehnte der Vorsitzende ab, woraufhin Weiler II erklärte: „dann wolle er der Versammlung Kunde geben, daß sie alle unter Polizei-Aufsicht ständen und wie sie dieses nicht leiden dürften und würden.” Er riss sich die Narrenkappe vom Kopf und schrie: „Ich rede nicht zu Euch als Narr, sondern als ernster Mann, der sich eine solche Behandlung nicht gefallen lassen wird und der Euch auffordert, ein Gleiches zu thun!“ Beinahe alle Anwesenden im Saal hätten fast zehn Minuten lang applaudiert. Im Jahr 1846 hatte sich die Situation weiter zugespitzt. Im Text für ein Ehrendiplom des Allgemeinen Vereins der Carnevalsfreunde zu Düsseldorf (AVdC) nahmen die Narren kein Blatt vor den Mund: „verfolgt von unseren Feinden, und gedrängt von eigenem Thatendrange“, hätten sie sich „unter die uns schirmende Narrenkappe geflüchtet“ und „statt des Schwertes mit der Pritsche“ bewaffnet. „So wagen wir den Kampf gegen Geistesdruck und Vorurtheil. Wir kämpfen gegen Dummheit und Trug und die Verfinsterung. Es ist zwar nur ein Guerillakrieg, aber der Sieg wird uns nicht fehlen.“ Landrat Frentz verweigerte die Druck­erlaubnis wegen „der verbrecherischen Natur“ des Textes. Er sah sich bestätigt, dass in dem Verein eine „gewisse Parthei“ versuche, „unter dem Deckmantel von Fastnachtsvergnügungen [...] politische Tendenzen auszukramen und ihren gesetzwidrigen Ansichten beim Publikum Eingang zu verschaffen“.

Heine wird von diesen Dingen erfahren haben. Denn eben jener Karl Grün war ins Pariser Exil gegangen. Sie standen in engem Briefkontakt. Heine bemühte sich 1846 intensiv, dem Exilanten Kontakte zu vermitteln, unter anderem zu Gustav Kolb, Redakteur der Augsburger Allgemeinen Zeitung. Und was der eigentliche Impuls zum Verfassen der Schelmenballade war, geht aus Schückings Begleitzeilen hervor. Da heißt es: „Auch versicherte er, wie er Freiligrath eigentlich so lieb habe – aber – was sich liebt, das neckt sich!“

„Brutus“

1845 hatte der im Londoner Exil lebende Ferdinand Freiligrath dem Allgemeinen Verein der Carnevalsfreunde zu Düsseldorf seinen „Brutus“ zugeschickt, Verse, in denen der Exilant die Rheinländer*innen unverhohlen zur Revolte aufrief: „Der Rhein, den noch neuerlich Heine/ Den Brutus der Flüsse genannt./ Nun der Rhein, Ihr wisst was ich meine./ Hoch Brutus und Rheinisches Land.“ Aber in jenem Gedicht, auf das sich Freiligrath bezieht, geht es nicht um Revolte, sondern um das genaue Gegenteil: Um ein in Tiefschlaf versunkenes Deutschland, Titel: „Bei des Nachtwächters Ankunft zu Paris.“ Es beginnt: „Nachtwächter mit langen Fortschrittsbeinen,/ Du kommst so verstört einhergerannt!/ Wie geht es daheim den lieben Meinen,/ Ist schon befreit das Vaterland?“ Alles sei vortrefflich, so der Nachtwächter. Der „stille Segen“ wuchere „im sittlich gehüteten Haus.“ Und ruhig und sicher, „auf friedlichen Wegen“ entwickele sich Deutschland „von innen heraus“. Nicht Frankreich, wo nur oberflächlich „Freyheit das äußere Leben bewegt“, sei das Vorbild. Im Gegenteil: „Nur in der Tiefe des Gemütes/ Ein deutscher Mann die Freiheit trägt.“ Die Verse schlagen in puren Spott um:

Die Konstitution, die Freiheitsgesetze,
Sie sind uns versprochen, wir haben das Wort,
Und Königsworte, das sind Schätze,
Wie tief im Rhein der Niblungshort.
Der freie Rhein, der Brutus der Flüsse,
Er wird uns nimmermehr geraubt!
Die Holländer binden ihm die Füße,
Die Schwyzer halten fest sein Haupt.
Auch eine Flotte will Gott uns bescheren,
Die patriotische Überkraft
Wird lustig rudern auf deutschen Galeeren;
Die Festungsstrafe wird abgeschafft.
Es blüht der Lenz, es platzen die Schoten,
Wir atmen frei in der freien Natur!
Und wird uns der ganze Verlag verboten,
So schwindet am Ende von selbst die Zensur.

Heine muss sich also gründlich missverstanden gefühlt haben. Er hatte sich für ein Höchstmaß an Subversion entschieden. Scheinbar harmlose Verse, doch hinter ihnen blitzt die Klinge des Scharfrichters auf. Heine ließ sein Publikum lange im Ungewissen. Erst im Herbst erschien dann Püttmanns „Album. Originalpoesien“, ein Almanach, in dem sich auch Gedichte von Heine fanden. Laut Engels alles Mittelmaß und Plattitüden. Ein schnell verprasselndes Feuerwerk, das nur einen qualmenden Rauch hinterlässt, „der die Nacht noch dunkler erscheinen lässt“, einen Rauch, „durch den als unveränderlich helle Sterne nur die sieben Gedichte von Heine hindurchschimmern […].“ Der Dichter war also doch nicht zum Romantiker regrediert! In diesen Gedichten wird klar, dass mit dem „Schelm von Bergen“ subversiv auf die Enthauptung Jacobe von Badens angespielt wurde. Denn in all diesen Gedichten geht es um unnatürliches Ableben. Die letzten beiden Strophen von „Pomare II“ lauten:

Sie tanzt. Derselbe Tanz ist das, Den einst die Tochter Herodias Getanzt vor dem Judenkönig Herodes. Ihr Auge sprüht wie Blitze des Todes.

Sie tanzt mich rasend. – ich werde toll – Sprich, Weib, was ich dir schenken soll? Du lächelst? Heda! Trabanten! Läufer! Man schlage ab das Haupt dem Täufer!

„Pomare III“ erzählt von einer Frau, die sich durch Prostitution hochgearbeitet hat, dann aber im Hospital stirbt. Und der Missbrauch geht auch nach ihrem Tod noch weiter, wenn ein Medizinstudent „mit schmierig/ Plumper Hand und lernbegierig/ Deinen schönen Leib zerfetzt,/ Anatomisch ihn zersetzt –“ Heine setzt lakonisch hinterher: „Deine Rosse trifft nicht minder/ Einst zu Montfaucon der Schinder.“ Im „Wiegenlied“ lässt der Dichter in der letzten Strophe den später enthaupteten Carl I. reimen: „Eyapopeya, was raschelt im Stroh,/ Was blöken im Stalle die Schafe?/ Das Kätzchen ist todt, die Mäuschen sind froh –/ Schlafe, mein Henkerchen, schlafe!“

Doch Hinrichtung ist keinesfalls nur eine Sache vergangener Jahrhunderte. Das macht er mit „Die Schlesischen Weber“, dem letzten Gedicht, klar: „Ein Fluch dem König, dem König der Reichen,/ Den unser Elend nicht konnte erweichen,/ Der den letzten Groschen von uns erpreßt,/ Und uns wie Hunde erschießen läßt –/ Wir weben, wir weben!“

Die „Schelmen“-Botschaft an die Düssel­dorfer*innen ist klar: Nicht aus der Deckung begeben! Märtyrerspielen ist Scheiße. Sich die Narrenkappe vom Kopf zu reißen, in manchen Situationen ebenfalls. Zumal wenn sonnenklar ist, dass wir dann eins auf‘s Haupt kriegen.

Thomas Giese