Ein Brief aus Kamtschik

Letzten Monat hatte ich mich komplett in Büchern vergraben. Der Grund: Mein Vortrag am 7. Juli in München über Emanuel Leutze. Ich hatte eine Einladung von der Bavarian American Academy erhalten über Emanuel Leutze’s „Washington Crossing the Delaware“ zu referieren. Konferenzthema: „Representations and Uses of the American Revolution in Past and Present“. Leutze hatte 1850/51 das monumentale Werk in Düsseldorf in einem leerstehenden Saal des Hotels „Stübben“ am Graf-Adolf-Platz geschaffen. Das Hotel existiert nicht mehr, das Gemälde – 6,5 m breit, fast 4 m hoch – hängt heute in schwerem goldenen Rahmen im American Wing des Metropolitan Museum, New York. Es wurde in unzähligen Karikaturen und Fotomontagen verulkt (siehe.: „Jazzcats Crossing the ­Rhine“; TERZ 03.20).

Bei meinen Recherchen stieß ich auf den Brief, den die lithographische Anstalt Arnz & Comp. aus Düsseldorf am 12. Januar 1855 an Heinrich Heine geschickt hatte. Es war eine Anfrage, ob der Dichter bereit wäre, einen literarischen Beitrag zu einem Album mit Dichtungen und Kunstwerken zu leisten. In dem Brief heißt es: „Was künstlerisch geleistet werden kann, soll jedenfalls geleistet werden“, und „außer den berühmtesten hiesigen Künstlern, wie Lessing, [Andreas und Oswald] Achenbach, Leutze, Fay, Jordan, auch die bedeutendsten auswärtigen schon ihre Mithülfe auf‘s freudigste zugesagt haben.“ Es wird versichert, „dass blos Namen vom besten Klang den Titel zieren und als Mitwirkende fungiren sollen.“ Leutze wurde also bereits als „Namen vom besten Klang“ geführt. Heine, bereits seit Jahren bettlägrig, war schwer krank, und ist dann im Folgejahr verstorben. Er scheint den Brief nicht beantwortet zu haben. Ich forschte weiter bei Heine nach, stieß auf einen Briefe seines Bruders Max vom Balkan aus dem Jahr 1830. Er war Stabsarzt bei der russischen Armee. Und die führte damals gerade Krieg gegen das Osmanische Reich. Der Zar war ein fürchterlicher Despot. Aber viele in Europa zeigten Sympathie für Russland, weil somit eine Befreiung Griechenland, das immer noch von den Osmanen besetzt war, in greifbare Nähe rückte.

Thomas Giese

Ein Brief von Max Heine an seinen Bruder Heinrich in Auszügen:

Kamtschik, den 2ten Juny 1830

Sehr geliebter Bruder.

Wo liegt Kamtschik, wirst Du fragen. So heißt der Platz, der mitten im Balkan ist, es ist ein Fluß, dessen Ufer mit starken türkischen Batterien besetzt ist, den großen Balkan vom kleinen Balkan trennt, und heute unser Lagerplatz ist. Dieser Fluß hieß bei den Alten Panysus, und Herodot spricht sehr oft von ihm. Da wir einen Tag hier stehen bleiben, so kann ich diese klassische Stelle nicht besser feiern, als Dir zu schreiben. Wohl noch nie ist hier ein deutscher Brief geschrieben worden. Auch in diesem Kriege ist dieser Ort bedeutend gewesen. Hier leisteten die Türken unsern tapfern Truppen den hartnäckigsten Wiederstand. Jetzt, lieber Bruder, weißt Du, wo ich sitze. Morgen ziehen wir über den kleinen Balkan nach Varna. Ich stehe beim Corps des General Roth. Die schönste Jahreszeit und der fröhlichste Geist begleiteten mich über den großen Balkan. Was sind die Alpen gegen dieses Hügelchen? verschwenderisch hat die Natur allen Zauber für diese Gebirgskette ausgetheilt. Die Pest und der Balkan müssen selbst gesehen werden, beide sind der Beschreibung unfähig. Vadeto Balkani i – nicht mori, sondern lebe! Bis in mein grauestes Alter werden diese Erinnerungen leben, Es ist eine unsterblich reiche Quelle für Gedanken – Ich habe nun nach einem 18-monatlichen Aufenthalt Thrazien verlassen, und morgen bin ich an der Gränze des Landes, was die Alten Mösien nannten. Meine Mußestunden habe ich philologisch benützt, [habe] die erfreulichsten Notizen über das alte Hellas gesammelt – bei Burgas fand ich sehr schöne warme Bäder, von denen Herodot erzählt. Die Inschriften konnte ich leider nicht enträthselen.

Wie aus einem Mährchen-Traume erwache ich, wenn ich bedenke, wie ich so oft an Ruinen, Flüssen, Städten stehe, von denen unsere Philologen die wahnsinnigsten Skizzen sich auf ihrem Strohlager ausdenken. In einer alten Ausgabe des Ovids, den ich zufällig von einem Offizier erhalten habe, ist eine Karte mit der klassischen Umgegend Messambria‘s angeheftet. Diese Skizze gleicht der, die ich mit meinen 2 Augen gesehen habe, wie die Laus dem Rhinozeros. – Als der gute Direktor Wagner zu Lüneburg mir einen derben Verweis gab, weil ich nicht wußte, wo der Hebrus fließt, da dachte ich damals, er sieht doch nicht so aus, und was geht mich sein Wasser an, ich werde es nie trinken! Mit welcher Begeisterung stand ich einige Jahre später an demselben Fluße! Vielleicht schrieb ich an derselben Stelle, wo Darius lagerte? – So sehr ich nun mit Theilnahme das alte Hellas durchwanderte, so abschreckend ist das neue Volk der Griechen – der Odysseus Homer‘s ist das lebendige Bild der jetzigen Griechen. Πολɸμήχανοϛ! Sie sind die Juden der Türkei! Die türkischen Juden sind geachteter bei den Türken als bei uns, und merkwürdig! Die Juden in Varna, Schumla, und Aido sprechen alle deutsch! Ich komme fast zu der traurigen Erkenntniß, daß die alten Griechen nicht weniger Schurken und Schelme waren als die neuen! [...] Die Unwissenheit der Neu-Griechen ist beispiellos! Vom alten Hellas wissen sie gar nichts, und türkisch sprechen sie lieber, als ihre eigne Muttersprache –

[…]

Mit meinem Regiment stand ich auf einem halb griechischen Dorf. Da lernte ich die griechischen Bauern kennen, die haben noch viele antike Gebräuche behalten. […]

Von den Türken ein andermal. Vorläufig die Notiz, daß ich manches aus der Volkspoesie dieses Volks mir verschafft habe. Wunderbar, daß in den Gesängen herumziehender Türken der Untergang Granadas und der Maurenherrschaft in Spanien abgesungen wird. Die Töne der begleitenden Zitter sind melancholisch, und fast das Ohr zerreißend. Für heute genug. – Ich will heute noch die Ufer des Panysus botanisch und geognostisch untersuchen –Morgen gehts nach Varna. Von da ein Mehreres – Lebewohl.

Dein Bruder Max Heine
Staabs-Arzt