Work-Art-Balance

Die Arthena Foundation im Medienhafen präsentiert am Kai 10 derzeit „Landscapes of Labour“. Die Black Box zeigt parallel zur Ausstellung in diesem Monat drei Filme zum Thema.

Georg Weerth konstatiert 1851 in einem Brief an Heinrich Heine: Die „Abschaffung der englischen Navigations-Akte, die Ausdehnung der Segelschiffahrt auf allen Meeren“ werde in Kürze dazu führen, dass „die Produkte des Mississippi ebenso rasch und billig in unsern Häfen eintreffen werden wie die Produkte des eigenen Landes.“ Dann beginne „der große Kampf“, der „Kampf zwischen russischem und amerikanischem Getreide; Kampf zwischen amerikanischem und deutschem Korne; Kampf zwischen australischer und deutscher Wolle; Kampf zwischen der Baumwolle und dem Flachs.“ Und heute? Die Schleifung der von Arbeiter*innen erkämpften Rechte und die Abschaffung nationaler wie internationaler gesetzlicher Regelungen im Zuge des Neoliberalismus haben uns in die Zeiten erbarmungsloser Konkurrenz zurückgebombt. Vielerorts hat dies zu einer Renaissance frühkapitalistischer Zustände geführt.

Das Territorium von Nationalstaaten sei „nicht mehr der einzige Schauplatz aller politischen, ökonomischen und kulturellen Ereignisse“, stellt denn auch Julia Höner, künstlerische Direktorin des Kai10 und Kuratorin der Ausstellung „Landscapes of Labour“ im Begleitheft fest. Dieser Trend verändere „weltweit die Dynamik von Handel und Kommunikation.“ Sie erläutert: „Angesichts der zahlreichen politischen Krisenherde unserer Gegenwart spiegelt die Ausstellung nicht zuletzt, wie eng Geopolitik und Wirtschaftsinteressen nach wie vor miteinander verflochten sind.“

Arbeit im (Medien-)Hafen

Unmittelbar gegenüber des Kai 10, am anderen Ufer des Hafenbeckens, befindet sich ein Sgraffito an einem ehemaligen Lagerhaus, das schleppende Hafenarbeiter darstellt. Der Hafen ist heute nur noch Medienhafen, eine hippe Location, traditionelle Hafenarbeit ist verschwunden. Es sind elf Künstler*innen, die aktuell im Kai 10 ihre Arbeiten zur Arbeitslandschaft bzw. den Arbeitslandschaften von heute präsentieren. Ein Problem, mit dem sich alle Ausstellenden konfrontiert sahen: Wie kann die Situation von Arbeit/prekärer Beschäftigung und Tätigkeiten, bei denen sich Menschen die Hände schmutzig machen, in diesen ästhetisch-weißen, geradezu aseptischen Räumlichkeiten präsentiert werden? Etwas hilflos erschien mir der Versuch der Venezolanerin Ana Alenso, die rotierende, selbst fabrizierte Apparaturen aus Schrott, wie sie beim Goldabbau in Lateinamerika zum Einsatz kommen, ausstellt: Sie beschmierte die weißen Wände mit dreckigem Lehm. Überzeugend fand ich hingegen die Lösungen, welche die Kanadierin Melanie Gilligan und die Französin Céline Berger fanden. Gilligan platziert eine raumgreifende Skulptur, bestehend aus miteinander verschraubten langen Stangen, mitten im Raum. In diesem Gestänge verspannt sind Bruchstücke aus dem privaten und beruflichen Leben von zwei Frauen, einer Uber-Fahrerin in New Burgh und einer Angestellten in der Verlagsbranche in San Francisco. Diese Leben sind jeweils in 12 Video-Clip-Fragmente zerlegt. Im Nebenraum präsentiert Céline Berger eine hoch aufragende schwarze Stele. Bei näherer Betrachtung entpuppt diese sich als ein Turm aus 24 quaderförmigen Lautsprecherboxen. Und aus jeder ertönt die Geschichte einer/s von einer Werkauflösung Betroffenen.

Silicon Saxony

Die Kuratorin Julia Höner diskutierte am 20. Oktober mit Céline Berger und Friederike Sigler über „Work-Art-Balance“. Die Künstlerin Berger erzählte, dass sie bis 2008 in einer Halbleiterfabrik bei Dresden, im so genannten „Silicon Saxony“, arbeitete, infolge der Insolvenz des Unternehmens ihren Job verlor und sich entschied, in Zukunft als Künstlerin ihr Dasein zu fristen. Ihre erste künstlerische Arbeit war eben jene in der Ausstellung gezeigte tönende schwarze Stele. Dazu hatte sie 24 ihrer ehemaligen Kolleg*innen interviewt, unter diesen auch Physiker*innen und Maschinenbauer*innen, die ihre Exit-Erfahrungen schilderten, welche aber „stets bruchstückhaft bleiben, weil die Tonspur abrupt endet und Berger auf diese Weise die gleichsam durchschnittenen Lebensläufe der Protagonist*innen spiegelt“, wie Friederike Sigler im Begleitheft erläutert. Die Kolleg*innen von einst fehlen ihr, unterstreicht Berger. Als Künstler*in führe sie eine prekäre Existenz, sei zugleich „Unternehmerin“, eine Einzelkämpferin, die selbst dafür sorgen muss, dass am Ende des Monats noch genügend Geld auf dem Konto ist. Und es gibt keine Werkssirene, die ihr sage, wann Feierabend ist, ein Stress, den sie zuvor so nicht kannte. In ihren Projekten erlebe sie sich als „Kollegin auf Zeit“. So begleitete sie z. B. Beschäftigte, die von Helgoland aus einen Offshore-Windpark warten. Sie legt stets Wert darauf, ihre Arbeiten nicht in irgendeiner Innenstadtgalerie zu zeigen, sondern an einem Ort in der Nähe des jeweiligen Arbeitsplatzes. Oft decke sich ihre Sichtweise nicht mit jener der Kolleg*innen vor Ort. Doch seien ihre Werke immer Anlass für intensive Gespräche, und diese Auseinandersetzungen seien ihr wichtig.

Friederike Sigler hat mit ihrer Dissertation „Arbeit sichtbar machen“ über „Strategien und Ziele sozialkritischer Kunst seit 1970“ promoviert und ist heute wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Ruhr-Universität Bochum. Sie führte am 20. Oktober aus, dass in den USA die letzten Jahre ähnliche Projekte wie das von Berger beschriebene realisiert wurden. Im Rahmen solcher Kunstprojekte sei zuweilen sogar zu Treffen zwecks Gründung einer Gewerkschaft oder einer Betriebsgruppe eingeladen worden – also Interventionen in einem ganz konkreten Sinne, die aus der sich entwickelnden Dynamik erwuchsen. Derzeit arbeitet Sigler an einem Buch über Künstler*innen, die Care-Arbeit thematisieren. Solche Projekte gab es in den letzten Jahren reichlich, ein Buch oder einen Bildband zu dem Thema jedoch noch nicht.

Ästhetisch nicht lösbar

Aber zurück zur Ausstellung. Die Stimmen von Céline Bergers 24 ehemaligen Kolleg*innen, diese Erzählungen durchschnittener Lebensläufe lassen ein Gedröhn wie in einem Hallenbad entstehen. Mir ist es nicht gelungen, auch nur eine einzige Geschichte zu verfolgen. Die Ton-Stele macht bewusst, dass dieses Problem ästhetisch oder künstlerisch nicht zu lösen ist. Die Vierundzwanzig müssten nicht im Kunstraum, sondern im realen gesellschaftlichen Raum mit einer Stimme sprechen, um sich auf diese Weise Gehör zu verschaffen, sich organisieren, um überhaupt erst gesellschaftlich wahrnehmbar zu werden. Klug kombiniert ist die Stele mit einer Beamerprojektion, ebenfalls eine Arbeit von Berger. Eine adrett gekleidete Dame, projiziert auf eine weiße Wand, trägt auf englisch Passagen aus einem Businessratgeber vor, dabei immer wieder den Betrachtenden verbindlich in die Augen schauend. Networking mit Kolleg*innen sei wichtig, doziert sie. Schnell winkten dann Aufstieg und Erfolg! Es sind fiktive Fallgeschichten. Mit Aufsetzen des Kopfhörers, so fiel mir auf, schaltete ich zugleich das Gebrabbel der 24 Entlassenen ab und hörte nun nur noch die angenehme klare Stimme, welche die Weisheiten aus dem Businessratgeber vortrug.

An anderer Stelle findet sich ein monumentales Schaubild, gegen das diejenigen von Claus von Wagner in „Die Anstalt“ geradezu mickrig wirken. Dieses die Funktionsweise von Amazons „Echo“ erläuternde Groß-Diagramm, das zugleich Aufschluss gibt über alle an der Produktion dieses Amazon-Produkts Beteiligten, ist eine Arbeit von Kate Crawford und Vladan Joler. Dieses Schaubild macht die Diskrepanz zwischen der Komplexität der Produktions- und Arbeitswelt von heute und unserem dürftigen Wissen über diese bewusst.

Ist dieses Nichtwissen gewollt? Mir fiel da ein, dass es am 29. Oktober auf den Tag genau ein halbes Jahrhundert her ist, dass die erste Folge von „Acht Stunden sind kein Tag“ von der ARD ausgestrahlt wurde (29. Oktober 1972). Das Besondere: Diese Familienserie war nicht in der Upper Class oder im Mittelstand angesiedelt, sondern im Arbeitermilieu. Eine Dauerserie wie später die „Lindenstraße“ hätte es werden sollen. Doch während wir in der „Lindenstraße“ den Sozialarbeiter Beimer fast nie sozialarbeitern sahen, standen in „Acht Stunden sind kein Tag“ – das Drehbuch war von Rainer Werner Fassbinder, der auch Regie führte – die Werkzeugmacherhalle, die Kolleg*innen und die dort entstehenden Konflikte im Vordergrund. Bereits nach einem halben Jahr verfügte der WDR das „Aus“ – und dies trotz bester Einschaltquoten. Dass die Folgen sechs bis acht nicht mehr gedreht wurden, hält Wolfgang Schenck, der in der Serie den für die Meisterprüfung büffelnden Arbeiter Franz spielte, für keinen Zufall. Denn in diesen Folgen „wird das Eisen ja wirklich heiß, also da geht’s ja ans Eingemachte, was Gewerkschaften, Aufsichtsrat und so weiter betrifft.“ Der damalige WDR-Fernsehspielchef Günter Rohrbach wiegelt ab. Die Serie sei allein „aus dramaturgischen Gründen“ abgesetzt worden. Fassbinder selbst sah es so wie Schenck. Ab Folge sechs „wäre die Serie politisch aggressiver geworden“, erläuterte er in einem Interview. Die Gruppe Werkzeugmacher sollte dann „mit den existierenden Arbeiterorganisationen in Kontakt kommen: mit den Gewerkschaften und den Betriebsräten“, und er könne sich vorstellen, „dass das mit zum Verbot beigetragen hat.“ Im Internet sind weiterhin einige Folgen der Serie zu finden – allerdings nur mit russischer „Voice over“. Dies nur als kleiner Exkurs zu dieser leider vergessenen Serie.

Textilproduktion in China für den westlichen Markt

In einer Großprojektion zeigt der Chinese Wang Bing den fünfzehnstündigen Arbeitstag in einer Textilfabrik in Huzhou, wo für den westlichen Markt produziert wird. Die Filme des in Peking Lebenden dürfen in China nicht öffentlich gezeigt werden. Zwar findet in dem Film über die Textilfabrik mehrfach ein Wechsel des Kamerastandorts statt, doch die 15 Stunden sind ganz ohne Schnitt gedreht. Erst im Abgang entfaltet der Film seine volle Wirkung. Mir lag es ja frei, jenen Raum, in dem der Film lief, zu verlassen, als ich genug hatte. Doch in Huzhou sind die Arbeitenden 15 Stunden lang dort angebunden und dies Tag für Tag. Ich rechnete aus: Die Ausstellung ist täglich sechs Stunden geöffnet, also müsste der Film nach Schließung eigentlich noch neun Stunden weiterlaufen. Vielleicht eine etwas banale Erkenntnis. Doch das war’s, was mir nach dem Ausstellungsbesuch durch den Kopf ging.

Ich will es bei diesen Impressionen belassen. Ich hätte hier auch andere Arbeiten näher beschreiben können, z. B. die der US-Amerikanerin Ericka Beckmann, welche die Immobilienspekulation in Lower Manhattan als comicartiges Monopoly zeigt, oder die ausgezeichnete filmische Collage der Spanierin Eli Cortiñas oder die Fotoserien von Allan Sekula oder die von Latoya Ruby Frazier. Bleibt mir hier nur der Appell: Unbedingt hingehen, selbst gucken! Das über weite Strecken interessante Begleitheft ist kostenlos, der Eintritt frei.

Thomas Giese

Photos (siehe Printausgabe): Achim Kukulies, Düsseldorf

ARTHENA FOUNDATION
Medienhafen, Kaistr. 10,
Di-So 11–17 Uhr
Feiertags geschlossen

Filme zum Thema:
BLACK BOX, jeweils 19 Uhr:
Sa., 05.11. Landscapes of Labour
Fr., 11.11. Working Dead
Fr., 18.11. Coming Together

Text zum Thema:
Jacobin.com; Meagan Day:
„Fassbinder and the Red Army Faction“
https://kaistrasse10.de/ausstellungen/aktuell/landscapes-of-labour.html