Christo und Evelyn Richter im Kunstpalast

Anfang der 1970er entdeckte ich eine Abbildung von Christos „Valley Curtain“ in einem Bildband: Das Tal des Colorado-River verhangen mit einem monumentalen orangenen Vorhang. Es war schlicht „mindblowing“.

Bald verpackte Christo alles: Flaschen, Dosen, Kleiderständer, einen VW-Käfer, den Pariser Arc de Triomphe, den Reichstag in Berlin. Ich sah darin immer auch ein Stück Kapitalismuskritik, Kritik an einer Gesellschaft, in der alles – schön verpackt – zur Ware wird (selbst Abgeordnet*innen sind, wie wir wissen, käuflich). Zum Zeitkontext: Andy Warhol pinselte damals das Werbedesign von Dosensuppen auf gigantische Leinwände, stellte „Brillo“-Kartons in eine Galerie. 1964 bezeichnete der Kunstkritiker Sidney Tillim dies im Arts Magazine als „eine ideologische tour de force, deren nihilistischer Grundzug durch den Warencharakter des Ausgestellten verdeckt wird.“ Im Kunstpalast findet sich zu diesem Kontext nichts, stattdessen fragwürdige Bezüge zum Werk Yves Kleins, Alberto Burris und Lucio Fontanas. Mit der Ausstellung war ich schnell durch. Christos großformatige Zeichnungen haben etwas Geschmäcklerisches. Sie sind nicht eigentlich Entwürfe, vielmehr dekorativer Wandschmuck – selbst die Beschriftungen haben hier einen ästhetischen Wert – ideal für Villen und großbürgerliches Ambiente. Dies gehörte mit zur Ökonomie der Projekte. Christo und Jean Claude realisierten diese, um unabhängig zu bleiben, grundsätzlich ohne öffentliche Fördermittel, sie finanzierten die Vorhaben allein durch den Verkauf von Fotos und Fotorechten sowie eben diesen dekorativen Mammutzeichnungen. Aber eine Ausstellung, dominiert von derart ästhetisch aufbereiteter und zum Verkauf gedachter Ware, langweilt rasch.

Evelyn Richter, Fotografin
Karriere in der DDR

Im Erdgeschoss die große Überraschung: Evelyn Richter. Ich hatte zuvor noch nie von ihr gehört. Offensichtlich waren viele oben bei Christo genauso schnell durch wie ich. Denn hier unten bei der 1930 in Bautzen geborene Fotografin, die im letzten Jahr verstarb, knubbelte es sich. Ihrem Werk sind ungefähr gleich viel Quadratmeter gewidmet wie dem Christos. Die neun Räume, in denen rund 150 ihrer Arbeiten präsentiert werden, sind jeweils unter ein Thema gestellt, als Struktur „etwas konventionell, aber auch sinnvoll“, heißt es in einer Rezension. Die Ausstellung beginnt „klassisch“ mit den Anfängen. Es folgen die Räume „Sowjetunion“, „Straßen und Plätze“, „Unterwegs“ „Musik“, „Porträts“, „Arbeit“, schließlich „Entwicklungswunder Mensch“ und „Menschen in Ausstellungen“. In den Räumen ist jeweils eins der Fotos auf Wandhöhe vergrößert. Im Raum „Unterwegs“ z. B. zwei Jugendliche auf einem verlassenen Bahnsteig, im Raum „Menschen in Ausstellungen“ ein Kind vor einem Gemälde, auf dem ein Mann jongliert – das Kind scheint einen der Bälle auffangen zu wollen. Und gleich am Eingang der Ausstellung sieht uns eine Frau aus einer Bude mit Wellblechdach vor einem Plattenbau erwartungsvoll an. „Softeis“ steht da in leicht geschwungenen Buchstaben, eingerahmt von Ornamenten, die an die „Prilblumen“ aus den 1970er Jahren in Deutschland-West erinnern. Der Osten hinkt immer etwas nach, so das Klischee. Doch im Hinblick auf Evelyn Richter verhält es sich genau umgekehrt. Denn erst vor zwei Jahren wurde ihr hier im Westen eine entsprechende Würdigung zuteil: 2020 erhielt sie den Bernd-und-Hilla-Becher-Preis. Der Kunstpreis der Stadt Dresden wurde ihr bereits vierzehn Jahre zuvor verliehen. „Evelyn Richter gehört zu den hervorragenden Vertreterinnen der sozial-dokumentarisch geprägten Fotografie in Deutschland“, ist auf der homepage des Dresdner Leonhardi-Museums zu lesen, das Richter 2010 aus Anlass ihres 80. Geburtstages eine umfangreiche Schau ausgerichtet hatte. Es seien Aufnahmen fernab „von jedweder Propaganda oder Gefälligkeit“. Sie fotografiere „aus einer merkwürdig verstörenden Sicht, die Kritiker eine östliche nannten und darin etwas schwer Verdauliches, anarchisch Melancholisches bemerkten, vor allem in der Art, wie Evelyn Richter mit der Kamera die Linien von Gesichtern, Mimik und Gestik nachzeichnet: schmerzhaft, zärtlich, gnadenlos.“ Zu ihren Motiven heißt es da: „Getragen von Empathie und eigenem tiefen Erleben erzählt Evelyn Richter in schwarz-weißen Bildern von Arbeiterinnen und Künstlern, Ausstellungsbesuchern und Straßenbahnfahrern.“ Die Fotografin wird auf der Leonhardi-homepage mit den Worten zitiert: „Ich will im Porträt zeigen, wie der Mensch zu sich findet. Ich suche den Augenblick der Konzentration, nicht das Extreme.“ Diese Nähe zu den Abgebildeten erinnerte mich an die Fotografien des gebürtigen Düsseldorfers Dirk Alvermann, die 2012 hier im Stadtmuseum zu sehen waren („Radschläger und Algerienkrieg“ in TERZ 10.12). Richter hat auch die ganz Großen vor die Linse gekriegt: Nikita Chruschtschow auf der Leipziger Frühjahrsmesse, den mexikanischen Wandmaler David Alfaro Siqueiros, der 1970, vier Jahre vor seinem Tod, die DDR bereiste, oder Dolores Ibárruri Gómez, die Richter 1978 in Moskau ablichtete. Die auch „La Pasionaria“ genannte Gomez hatte bekanntlich 1936 den Ausruf „¡No pasarán!“ geprägt, unter dem die Internationalen Brigaden in Spanien gegen die vom faschistischen Italien und Nazi-Deutschland unterstützten Putschisten kämpften. Ab 1960 war Ibárruri dann Vorsitzende der kommunistischen PCE-Partei, noch immer im Exil, weil die Westmächte über den Putschisten Franco ihre schützende Hand hielten und mit ihm ihre Geschäfte machten.

Menschen im Alltag

Evelyn Richters besonderes Interesse galt aber den Menschen im Alltag. Einige ihrer Fotos waren bereits 1990 in der Ausstellung „Bilder vom Neuen Deutschland“, welche die Kunsthalle Düsseldorf im Juli 1990 präsentiert hatte, zu sehen. Eine Aufnahme, die bei den Massendemonstrationen im Herbst 1989 in Leipzig entstand, erschien auch im Begleitheft zur damaligen Schau: Junge Leute erklimmen auf einem Bahnsteig einen Mast, an diesem prangt das Schild: „Achtung Weichenstellung beachten“. Solche subtile Pointen finden sich häufig in ihren Fotos, die in der Schau ergänzt werden durch Vitrinen, in denen Broschüren und Illustrierten mit Richters Fotoreportagen ausliegen.

„Was ist ein Schichtarbeiter wert?“

In der DDR hatte Richter sich als freie Fotografin einen Namen gemacht. Fotos von Musiker*innen und Orchestern waren für sie eine wichtige Einnahmequelle. 30 Langspielplattencover, für die sie die Fotos lieferte, füllen im „Musik“ betitelten Raum eine ganze Wand. „Neben der Musik gehörte die Arbeit zu den Themenbereichen, in denen Richter die meisten Aufträge erhielt“, heißt es im Wandtext im schlicht „Arbeit“ betitelten Raum. Eine ganze Serie hat Richter einer Chirurgin am Universitätsklinikum Leipzig gewidmet: Im OP-Kittel, im OP-Saal und erschöpft dasitzend bei einer kurzen Verschnaufpause ist sie auf den Bildern zu sehen. Insbesondere fotografierte Richter aber Arbeiterinnen in der Produktion. Aufnahmen entstanden in der Kammgarnspinnerei Markkleeberg, in der Weberei Ringenhain in der Lausitz, in der VEB Intergarn Leipzig, in der Lehrwerkstatt VEB Baumaschinen, Gütersleben/Aschersleben. Das Foto der lachenden und lächelnden Frauen, die gerade am Rande einer gigantischen Spinnmaschine ein Päuschen einlegen, ist mir besonders in Erinnerung geblieben. 1969 entstand dann eine Serie, die Auszubildende aus Vietnam in einem Betrieb für Elektromechanik zeigt. Eine ihrer Fotoreportagen erschien in „Funk und Fernsehen“ unter dem Titel „Was ist ein Schichtarbeiter wert?“ Wäre ein solcher Artikel in einer Fernsehzeitschrift in Deutschland-West denkbar? Für sowas gibt es hier keinen Bedarf. Arbeiter*innen haben in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit nichts zu suchen, allenfalls im „Problemfilm“ nach 23 Uhr. Und wir wissen: Die im Arbeitermillieu spielende Familienserie „Acht Stunden sind kein Tag“ wurde trotz bester Einschaltquoten 1973 abgesetzt. Fassbinder, Autor, Drehbuchautor und Regisseur der Serie, sprach damals offen von „Verbot“, also Zensur („Work-Art-Balance“; TERZ 11.2022).

Bei aller Gesellschaftskritik, fundamentalistisch war Richters Haltung als „Freie“ in der DDR keineswegs. So nahm sie zehn Jahre von 1980 – 90 einen Lehrauftrag an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst wahr. Viele Künstler*innen zogen es in der DDR aber vor – so wie Christo im Westen – systemunabhängig zu arbeiten. Ein wichtiger Unterschied zwischen „Dissidenten“ im Westen und denen in der DDR: Christo musste Geschmäcklerisches für Villen produzieren, „Freie“ in der DDR hingegen die Nähe zur Arbeiterklasse, wie z. B. 1968 der Maler Bernhard Heisig, suchen.

Doch gibt es durchaus Verbindendes zwischen Ost und West. Die unter Planen verpackten Kettenfahrzeuge, die Richter 1961 in Berlin fotografierte, sahen aus wie Christo-Objekte. Unter mancher Verpackung lugte eine Panzerkanone hervor. Dazwischen „Verstecken“ spielende Kinder. Richter machte die Aufnahmen heimlich. Und zwar am Tag vor dem Mauerbau. In ganz Berlin galt striktes Fotografierverbot. Großmächte lassen sich nun einmal nicht gern auf die Finger schauen. So wünschen die USA z. B. den in britischer Auslieferungshaft sitzenden Julian Assange gerne in einem US-Gefängnis, weil er Aufnahmen von US-Kriegsverbrechen veröffentlichte. Jener Film, in dem zu sehen ist, wie US-Militärs aus einem Helikopter Menschenjagd auf Zivilist*innen machen, diese wie Kaninchen abknallen, ist wohl jedem im Gedächtnis geblieben.

Die Ausstellung mit Richters Fotografien ist in etwa doppelt so umfangreich wie die von 2010 im Leonhardi-Museum. Die Ausstellung entstand in Kooperation mit dem Evelyn-Richter-Archiv der Ostdeutschen Sparkassenstiftung im MdbK und dem Museum der bildenden Künste Leipzig, wo sie ab Mai 2023 zu sehen sein wird. Kuratiert wurde die Ausstellung von Linda Conze.

Thomas Giese