Alles surreal? – Teil II

Düsseldorf und der Surrealismus

„Instinktiv begriff sie, was Otto Dix mit seinen Schützengrabenbildern, Wollheim mit seinem ‚Verwundeten‘ sagen wollte. Sie empfand auch, wie sie es in ihrer unverbildeten Sprache ausdrückte, früh das ‚Unheimliche‘ in den Bildern von Max Ernst und wagte es als erste, sie auszustellen.“
Die Kunsthistorikerin Anna Klapheck über die Backwarenverkäuferin und spätere Kunsthändlerin Johanna Ey

Manche Monumente gehören so selbstverständlich zum Stadtbild, dass sie uns gar nicht mehr auffallen. Sie waren irgendwie schon immer da. Zum Beispiel der „Habakuk“ – die Bronze-Skulptur vor der Kunsthalle am Grabbeplatz. Sie wurde nach einer ca. 50 cm hohen Max-Ernst-Plastik gefertigt. Ernst war Surrealist und „wohl der international bedeutendste in Deutschland geborene Künstler des 20. Jahrhunderts“, klärt das im Wienand-Verlag 2020 erschienene Büchlein über ihn auf. Die Enthüllung des fast vier Meter hohen Habakuk fand am 13. Mai 1971 im Beisein von Max Ernst statt. Was aber hat der in Brühl am Rande des Braunkohletagebaus Geborene mit Düsseldorf zu tun? Einen Hinweis finden wir, wenn wir vom Habakuk quer rüber die Neubrückstraße in Richtung „Einhorn“ gehen. Linkerhand, auf dem Abstelltischlein an Bert Gerresheims Johanna-Ey-Denkmal, liegt neben dem Bronze-Ei das Faksimile eines Telegramms. Datum: 4. März 1929. Absender: Max Ernst, Paris. Der Text: „großes Ey, wir loben dich/ ey, wir preisen deine stärke./ vor dir neigt das Rheinland sich,/ und kauft gern und billig deine werke!“ An jenem 4. März feierte Johanna Ey mit großem Tamtam ihren 65. Geburtstag. „NEUE KUNST FRAU EY“ stand in großen Lettern über den zwei Schaufenstern ihrer Galerie mit angeschlossener Kaffeestube. Dort an der Heinrich-Heine-Allee (damals: Hindenburgwall 11) erhebt sich heute das K20, der mächtige Bau aus poliertem schwarzen Granit – im Volksmund „Kunstsarg“ genannt. 1916 war die Kunsthändlerin in die neuen Räume umgezogen, da diejenige auf der Ratinger zu klein geworden waren (siehe dazu: „Wir können auch anders“, TERZ 03.2019).Der rheinische Kunsthandel war nicht nur für Max Ernst existenzsichernd, sondern auch für den ebenfalls in Paris lebenden Picasso. 1912 hatte die Sonderbundausstellung im Kölner Wallraf-Richartz-Museum, ermöglicht durch die Galeristen Kahnweiler und Flechtheim, für Schlagzeilen gesorgt. Die „Deutsche Welle“ erinnerte 2016 daran: „Die Ausstellung, die Werke der internationalen Avantgarden zeigte, wurde zu einer Provokation. Picasso durfte 22 Werke in einem eigenen Saal ausstellen. Die lokale Presse tobte und zweifelte an der Qualität der ‚Würfel-Kunst‘ des Kubisten Picasso.“ Max Ernst wurde gleichfalls zum Skandal. Am 3. Februar 1920 war in der Rheinisch-Westfälischen Zeitung zu lesen: „Im Jungen Rheinland fiel ein Max Ernst bereits als Hans Naivus durch seine primitiven Bilder auf. Inzwischen hat er die günstige Rückentwicklung zum Kinde an sich soweit vollzogen“, dass er aus allerlei Vorgefundenem „Knotenplastiken“ zusammenbastele, „bei denen sich auch der bereitwilligste Beschauer nichts zu denken vermag.“ 1922 wurde in einem Flugblatt – Titel: „Jüdisch-französische Kunst in Düsseldorf“ – gegen die Künstlervereinigung „Junges Rheinland“ gehetzt. Da hieß es: „Man würde gegen diese neue Schule an sich nichts einzuwenden haben, wenn sie nicht in die Hände exaltierter und lediglich auf Erfolg reitender Juden geraten wäre.“ Präsident und „Hauptmacher“ des Jungen Rheinland sei „der Jude Wollheim“, ihm zur Seite stünde „der Zeichner Uzarski, dem Aussehen nach ein jüdisch polnischer verwachsener Mischling“, eine „Hauptrolle“ spiele auch „der armenische Jude, Maler Sopher.“ Zu dieser Gesellschaft sei „nun in neuester Zeit wieder Alfred Flechtheim gestoßen.“ Der habe einst beim „Anrücken der alliierten Truppen“ Reißaus genommen, „wofür er uns den Grund schuldig blieb.“ Denn er hätte „doch die Protektion der Franzosen erwarten“ dürfen, da er schon 1912 „stark mit französischen Bildern arbeitete.“. Die Zustände in Düsseldorf schienen Antisemit*innen und Reaktionär*innen besonders skandalös, da „das Judentum“ sich offenbar hier mit dem Proletariat zusammengetan habe.

Johanna Ey war eine aus einfachsten Verhältnissen kommende Backwarenverkäuferin, die bald die Werke von Studierenden der ums Eck gelegenen Kunstakademie mit ins Sortiment aufgenommen hatte. Sie sei „später immer stolz darauf“ gewesen, schreibt die Kunsthistorikerin Anna Klapheck, „den berühmt gewordenen Max vor Flechtheim in seiner Bedeutung erkannt und seine Bilder ausgestellt zu haben.“

1927 war Johanna Ey samt Entourage mit Zwischenstopp in Paris auf Mallorca. 1933 war sie nochmal dort, um den schwerkranken Maler Jacobo Sureda, „einer ihrer Getreuesten“, so Klapheck, zu besuchen. „Mallorca“, klagt Ey, „ist nicht mehr wie früher, nicht so primitiv und bescheiden, alles ist auf Geschäft eingestellt.“ Anna Klapheck protokolliert: „Als Johanna Ey im April 1933 nach Hause kommt, marschieren die braunen Kolonnen über den Hindenburgwall.“ Die Stadtverwaltung unter dem Nazi-Regime brutalisiert sich zunehmend. „An den Schaufenstern kleben Boykottzettel mit üblen Verunglimpfungen von Frau Eys Person, etwas später sperrt man ihr Licht und Gas.“ Im April 1934 kapituliert sie und gibt die Galerie und Kaffeestube auf.

„Mutter Ey. Eine Düsseldorfer Künstlerlegende“

Im Vorwort ihres 1958 erschienenen Büchleins „Mutter Ey. Eine Düsseldorfer Künstlerlegende“ schreibt Klapheck: „Ich habe die letzte Phase der Galerie von Johanna Ey noch miterlebt und manches Mal bei ihr im Stübchen auf dem Sofa gesessen, auch nach dem Kriege die Verbindung wieder aufgenommen.“ Max Ernst bedankte sich aus Frankreich: „Das Eyerbuch macht mir viel Spaß und Freude“. Der während der Nazizeit nach New York geflohene Gert Wollheim bezeichnete es als „ein Liebeswerk im Andenken an unsere Johanna Ey.“ 1977 erschien ein Reprint. Im Vorwort zu diesem registriert die Kunsthistorikerin einen Wandel: „Als ich in den fünfziger Jahren mein Buch schrieb, stand die gesamte Kunstwelt im Banne der ‚abstrakten‘ Kunst. Realismus und Surrealismus waren von den Erfindungen der reinen Form verdrängt worden.“ Doch Johanna Eys Herz habe stets „für die Leidenden und Unterdrückten“ geschlagen. Die „reinen Formen“ ließen sie kalt. Zufrieden konstatiert Klapheck in diesem Vorwort von 1977: „Die Kunst von heute hat zur Wirklichkeit zurückgefunden, das Aufrührerische ist wieder gefragt. So ist auch die Kunst, für die Johanna Ey so tapfer stritt, heute aktueller als vor zwanzig Jahren…“. Max Ernst ist sich treu geblieben: 1972, im Jahr nach der Enthüllung des Habakuk, schuf er 34 farbige Lithographien zu „La ballade du soldat“ von Georges Ribemont-Dessaignes – Verse, in denen es heißt: „Es gibt keine Sterne mehr/ Der Himmel ist ganz schwarz/ Es gibt keine Sterne mehr./ Die hat der General auf seiner Mütze.“

Flucht nach Paris

„Mit der politischen Revolution ging die künstlerische parallel“, unterstreicht Klapheck. 1919 war Max Ernst Mitbegründer der Dada-Gruppe Köln. „Dada war der Ausbruch einer Revolte von Lebensfreude und Wut“, erinnert er sich. „Wir jungen Leute kamen wie betäubt aus dem Krieg zurück und unsere Empörung musste sich irgendwie Luft machen. Dies geschah ganz natürlich mit Angriffen auf die Grundlagen der Zivilisation, die diesen Krieg herbeigeführt hat. Angriffe auf die Sprache, Syntax, Logik, Literatur, Malerei und so weiter.“ Doch es blieb nicht beim bloßen Kunstprotest. 1922 stand „Der junge König“ auf dem Spielplan des Kölner Stadttheaters. Die Propagandaabsicht des Stücks, „ein neues Kaiserreich in Deutschland oder ein neues Königreich in Preußen wieder aufzubauen“, sei so evident gewesen, hält Ernst fest, „und der Erfolg dieses Stückes so großartig, dass man da irgendetwas machen musste.“ Einfach Klappe halten ging nicht. „Ein paar Freunde von mir, so genannte Anarchisten – was man so Anarchisten nennt im literarischen Sinne – hatten mich gebeten, ob ich da nicht mitwirken würde.“ Und bei der Vorstellung am Abend des Aschermittwochs startete die Aktion. „Auf die blöden Fragen, die auf der Bühne gestellt wurden“, kamen aus dem Theaterraum Antworten, „die die ganze Sache ins Lächerliche zogen.“ Leider fehlt hier der Platz, um dies auszuführen. Es ist von Ernst selbst erzählt im „Selbstporträt“ (s. u.) nachzuhören. Er sei in der Presse als „Haupträdelsführer“ tituliert und eine Art Pogromstimmung gegen ihn inszeniert worden, so dass er sich gezwungen sah, nach Paris zu fliehen. „Denn wohin anders konnte man gehen?“ Einen Pass hatte er nicht. „Der Éluard [gemeint ist der surrealistische Schriftsteller Paul Éluard, der sich 1941 der Résistance anschloss; 1942 Wiedereintritt in die PCF] hatte mir seinen eigenen Pass geliehen.“

Wohl nicht zufällig hatte der surrealistische Filmregisseur Luis Buñuel, als er 1929/30 „L’Age d’Or“ drehte, die Rolle des Bandenchefs mit Max Ernst besetzt, der in einer Szene „Aux armes!“ rief. Seine Getreuen entschliefen auf dem langen Marsch einer nach dem anderen, noch bevor sie auf die mittlerweile zu Skeletten zerfallenen Klerus-Vertreter trafen. Nach fünf Pariser Vorführungen sprengte die rechtsextreme „Ligue des patriotes“ die nächste. Farbe flog gegen die Leinwand, Knallkörper wurden gezündet, Plakate von Dalí, Tanguy und Max Ernst im Foyer zerrissen. Jene Anhänger*innen der „Ligue des patriotes“, die gefasst werden konnten, wurden vor Gericht freigesprochen. Jean Chiappe, Polizeipräfekt von Paris, ließ statt der „Ligue des patriotes“ den Film verbieten. Das Verbot blieb bis 1981(!) bestehen. Die Surrealist*innen hatten 1930 mit einem Protestflugblatt reagiert. Der Tonfall erinnert an den von „Charlie Hebdo“: „Seit wann darf man die Religion nicht mehr in Frage stellen? Ihre Grundlage und die Sitten ihrer Vertreter? Seit wann unterstützt die Polizei Antisemiten? Ist Provokation zur Rechtfertigung eines Polizeieinsatzes kein Zeichen von Faschismus?“ An jenem 4. März 1929, als Max Ernst das eingangs genannte Telegramm an die Ey schickte, besprach er womöglich gerade mit Buñuel das Skript für „L‘Age d‘or“.

Bleibende Schäden der DDR-Sozialisation

Kaum eine andere Gruppe von Künstler*innen und Dichter*innen mischte sich so stark in gesellschaftliche und politische Belange ein wie Surrealist*innen. Dass Merkel „surreal“ gleichbedeutend mit „unwirklich“ benutzte, ist aufgrund ihrer DDR-Sozialisation erklärbar (siehe dazu Teil I: „Surrealer Kunstdiskurs“; TERZ 09.2021). Dass aber hier im Westen alle Medien dies kritiklos übernahmen, ist gruselig. Es gab meines Wissens nicht einen klärenden Kommentar. Zu „Surrealismus“ fallen den meisten Bilder von Salvador Dalí ein. Doch der war 1939 von der Surrealismusgruppe wegen seiner Koketterie mit dem Faschismus ausgeschlossen worden. Als der durch die Faschist*innen an die Macht gelangte Franco 1974 noch kurz vor seinem Tod weitere Todesurteile gegen Oppositionelle unterschrieb, schickte Dalí ihm ein Telegramm, in welchem er sich dafür aussprach, noch viel mehr hinzurichten. Dieser Blutrausch hat mit Surrealismus nichts zu tun!

Surrealismus à la Gerresheim

Bert Gerresheim, der Johanna Ey das Denkmal in der Neubrückstraße setzte, bekennt sich offen zu seiner Vorliebe für das Surreale. Er führt dies auf seine Kindheit im katholischen Elternhaus zurück. Damals war der Gegenpol „die starke Präsenz eines Onkels“, eines Kommunisten, „der permanent statt vom lieben Gott von Lenin schwärmte.“ Bei ihm als Kind sei so ein Weltbild entstanden, das in sich widersprüchlich war. So sei er schon früh mit einer „Wirklichkeit, die viele Gesichter hat“ konfrontiert worden, einer „Wirklichkeit, der man nicht trauen kann“. Er ergänzt: „Und ich denke schon, das hat auch mit wackelnden Kellerwänden während eines Bombenangriffs zu tun. Da ist nichts mehr fest und nichts mehr absprechbar.“ Diese „Vielgesichtigkeit“ habe ihn später, so vermutet der 85-Jährige rückblickend, „zur Liebe zum Surrealismus gebracht“, zu einem stetigen „Hinterfragen von Wirklichkeit, die man nicht als Gegebenes hinnimmt.“

Thomas Giese

„I was born with a very strong feeling of needs of freedom and liberty. And that means also a very strong feeling of revolt. Revolt and revolution is not the same thing. But when you have this strong feeling of the need to revolt and the need of freedom and you are born into a period, where so many events invite you to get revolted and to see over what is going on in the world and been disgusted with it and so on it’s absolute natural the work you produce is a revolutionary work.“ Max Ernst

Zum Weiterlesen:
Anna Klapheck: „Mutter Ey – eine Künstlerlegende“ 1958, Reprint 1977, Droste-Verlag Düsseldorf; in der Stadtbücherei ausleihbar.

Zum Weitersehen (im Netz verfügbar):
Peter Schamoni: „Mein Vagabundieren - Meine Unruhe“ 1991;
https://youtu.be/fseWFk0DhAc

„Max Ernst – Ein Selbstportrait“ NDR 1967
https://youtube.com/watch?v=3OBvQcGOixU

„Kindheit im Krieg“ Bert Gerresheim, WDR
https://www1.wdr.de/dossiers/kindheit-im-krieg/video-nach-einem-bombenangriff-auf-duesseldorf-entdeckte-ich-eine- bibliothek-100.html