Der letzte Rest vor dem Schützenfest

oder:

Was es bis jetzt noch nicht in die Terz geschafft hat.

Aktuell bei Bandcamp erhältlich ist die neue Kassette-EP Tinny Wallpaper von Yürke aka Stefan Jürke. Zwei Tracks, beide jeweils 5 Minuten lang. Er00r hält, was der Titel verspricht. Bizarr, verstörend und dazu sehr LoFi. Denn das Tape wartet, im Gegensatz zu den digitalen Bandcamp-Files, mit extra speziellen LoFi-Versionen auf. LFO Length auf Seite zwei ist dann wirklich eine schöne Hommage an LFO, die alte Warp-Band.

Auch Hauch Records aus Düsseldorf hat uns den Spätsommer-Herbst mit zwei Tapes versüßt. Das Tape von Lukas Hermann hatte sich leider verzögert. Der Hersteller in UK hatte sich vertan und das Tape falsch bespielt mit dem neuen Sponsch Album, einer ebenfalls auf Hauch beheimateten Formation. So fangen wir an mit Sponsch und Flow: An Exercise In Noise Meditation. Sehr harter Stoff, Seite 1 mit Lesson 1: Flow ist eine ca. 20-minütige Noise-Orgie, die klingt, als ob verzerrtes Radiorauschen mit einem schrillen Saxophon verfeinert würde. Seite 2 mit Lesson 2: Meditation ist dann entspannter, ja wirklich ruhiger, die Skills sind aber genauso bizarr. A Deserted Trip von Lukas Hermann wurde schließlich mit ca. 6 Wochen Verspätung veröffentlicht. Acht Tracks, nicht ganz so verstörend wie Sponsch. Alle Tracks sind wirklich hörenswert, nicht so noisig und brachial wie Sponsch, mehr elektronische Spielereien. Aber begeistert bin ich von beiden Kassetten. Das Lukas-Hermann-Tape gibt es somit als Fehlaufnahme mit Sponsch-Tracks und mit Lukas Hermann Aufnahmen, vielleicht ist der Fehlpress ja irgendwann einmal der Goldene Gral und versüßt uns die Rente.

Die Mischpoke #1 12-Inch auf Hauch vom Dezember diesen Jahres ist ebenfalls ein Knaller, vier Remixe von Hauch-Bands/Musiker*innen. Alle vier Tracks sind absolut tanzbar, könnten im Salon des Amateurs nachts um 3 Uhr laufen und würden die Massen wohl zum Kochen bringen.

Zum Kochen haben mich letztens im AK47 I Am The Fly aus Mühlheim an der Ruhr gebracht. Synth-Punk mit fetten strangen Grooves. Keyboard, Bass und elektronisch verfremdeter Gesang, dazu eine grandiose Bühnenshow! Das Markenzeichen von den Jungs aus dem Pott sind selbstgebastelte Fliegenmasken. Ich war komplett geflasht und habe mir natürlich sofort die 12“ von diesem Jahr und die Debüt-Single von 2020 eingepackt. Beide Releases sind absolute Granaten, das Album Pattern/Function präsentiert uns 6 Synth*-Punk Granaten, die einen zum Tanzen in der Wohnung animieren. Einseitig bespielt, mit Siebdruck auf der B-Seite und Siebdruck-Cover ist das Ganze auch ein Augenschmaus. Die Debüt-Single I Am The Fly mit drei Songs bietet einen tollen Vorgeschmack auf das Album, ein großartiges Erstlingswerk! Checkt die „Fliegen“ mal auf Bandcamp, das Duo aus dem Pott ist wirklich großartig. Von ihrer Live-Qualität konnte ich mich nochmal im Zakk beim Lieblingsplatte-Festival überzeugen, wo sie als Vorband von Östro 430 auftraten, der Eindruck aus dem AK hat sich bestätigt, wieder eine großartige Live-Performance!

A Rocket In Dub aka Stefan Schwander hat zum Jahresende sein neues Album Ltd. auf dem Düsseldorfer Label Krachladen Dub veröffentlicht. Als Tape oder Doppel-LP erhältlich, erwarten uns hier – bei dem Band- und auch Labelnamen kein Wunder – 9 langsame dubbige elektronische Tracks. Weniger clubtauglich, dafür aber sehr Sonntagmorgentauglich, zugänglich und zum Runterkommen geeignet, einfach chillig! Stefan Schwander ist seit über 25 Jahren im elektronischen Bereich unterwegs, der Mann versteht sein Handwerk. Wer über das Label bestellt, hat vielleicht Glück und ergattert einen der limitierten Kunstdrucke, es gibt 100 Exemplare. Tanzbarer ist dagegen die Seven-Inch Rocket No. 3 mit Jan Delay am Gesang. Original im Jahr 2002 erschienen, ist der Song dieses Jahr neu mit Jan Delay eingespielt worden und dubt wirklich das House! Die Single ist auf jeden Fall ein Kandidat für meine Festive Fifty[1] und wird bestimmt nächstes Jahr mal in Oberbilk über den Vestax-Handy-Trax[2] der breiten Bevölkerung zugänglich gemacht. Ach ja, auf Italic erschienen und limitiert, also beeilt euch.

Die Düsseldorfer Psychedeliker Vibraviod waren in diesem Jahr wirklich fleißig und haben mit The Presidents Of The Poison Air auf Stoned Karma ihr viertes Album veröffentlicht. Der gleichnamige Titelsong The Presidents Of The Poison Air erschien schon im Februar diesen Jahres und ging explizit auf die Kriegsgeschehnisse in der Ukraine ein. Insgesamt ist TPOTPA poppiger als die anderen Vibraviod-Alben und für mich ein Highlight zum Jahresende. Die anderen beiden Alben A Sparkle In The Twilight und The Clocks That Time Forgot sind aber auch empfehlenswert, auch wenn das eher klassische Vibravoid-Alben sind, was bei der bekannten Qualität der Band aber kein Manko ist, sondern eher ein Kaufanreiz. Die 2022er Kompilation Phasenvoid 1992-1997 (Vibrations From A Lost Decade) ist auf jeden Fall essentiell, denn das sind – von den alten Tapes aufgearbeitet – alte Aufnahmen von 1992 bis 1997 drauf, also eine Zeitreise in das letzte Jahrtausend. Alle drei Releases sind beim Label direkt als limitierte Editionen mit Wiggle Cover, OBI-Band[3] und zusätzlichen CDs erhältlich. Das Album Zeitgeist Generator habe ich ja schon in der TERZ vom März diesen Jahres besprochen.

Stefan Schneider hat auf seinem Label TAL dieses Jahr nicht nur Konrad Kraft – Accident In Heaven, siehe auch die TERZ vom Februar diesen Jahres, herausgebracht, sondern auch SO SNER – Reime, Automne Six s/t und Sam Prekop – The Sparrow. SO SNER sind Susanna Gartmayer aus Österreich an der Bassklarinette und Stefan Schneider, Elektronics. Die Aufnahmen sind 2020 und teils auch schon im Jahr 2015 entstanden. Ruhige Elektro-Skills, abgerundet von der Bassklarinette, sorgen für den perfekten Soundtrack zu den Minusgraden draußen. Kleine Randnotiz: die 2020er Aufnahmen sind in der Stammhaus-Kirche Düsseldorf-Kaiserswerth und die 2015er Aufnahmen bei Elektro Müller (Kraftwerk) eingespielt und aufgenommen worden. Automne Six sind dann Philippe Poirier und Stefan Schneider. Der Franzose Philippe Poirier ist eigentlich Gitarrist, der bei Automne Six aber den Gesangspart übernommen hat. Vielleicht liegt es am französischen Gesang, dass das komplette Album mich an French-House erinnert, dem Etienne Daho, der alte Popbarde, seine Stimme geliehen hat. Alles ein wenig langsamer und melancholischer, ruhig, nicht aufdringlich, sehr verspielt. Sam Prekop ist ein amerikanischer Indierock-Elektroniker aus Chicago und auch schon über 20 Jahre aktiv. Das Album The Sparrow hätte mit seinen Indietroniks und klaren elektronischen Elementen auch auf Warp erscheinen können. Der Titeltrack The Sparrow auf Seite 1 dauert 17 Minuten, weist aber wegen seines geschichteten Aufbaus keinerlei Längen auf. Die vier Tracks auf Seite 2 runden das Album ab, und fertig ist ein weiteres 2022er Highlight für mich. Alle drei Alben wurden wieder von Detlef Funder in seinem Paraschall-Studio gemastert, also ein gewohnt brillianter Sound.

Ein interessantes Tape habe ich noch an der Hand und möchte es euch empfehlen. ]licht-ung[ aus Leverkusen mit Indientape. Erschienen auf Grisaille, einem Label aus Münster. Mehr oder weniger durch Zufall über den Bandnamen gestolpert und bei Bandcamp reingehört, war ich hier sofort begeistert. Drone, Ambient und Experimental; auch hier ruhige, klare Sound-Collagen, immer mitnehmend und nie langweilig. Drei Songs, die es zusammen auf gut eine Stunde Spielzeit bringen und sich sehr gut als Hintergrundmusik beim Lesen eignen, zum Beispiel, wenn ein neuer Hellboy-Comic herausgekommen ist.

So, das war es dann für 2022, mal schauen, was 2023 uns an neuen musikalischen Erfahrungen, Eindrücken und Besonderheiten auf den Plattenteller oder in das Tapedeck hineinspült. CDs werden wir wohl nie besprechen, denn einen CD-Player gibt im Haushalt Mrs. Cave & The Oberbilker nicht. Wir haben letztes Jahr sogar den Fernseher rausgeschmissen, damit wir mehr Platz für Vinyl haben. Im Rahmen dieser Aktion ist dann auch der Blue-Ray-Player aka CD-Player mit rausgeflogen. Das Tapedeck haben wir dafür behalten, das macht mehr Sinn (-:

Ein kleiner Tipp noch, schaut euch mal bei YouTube den aktuellen Clip von Soft Cell mit den Pet Shop Boys an, Purple Zone. Pop vom besten mit den Großmeistern. Bei YouTube Soft Cell & Pet Shop Boys - Purple Zone (Official Video) eingeben und euch von einem trashigen Clip begeistern lassen. Gibt es natürlich auch als 12“ auf Vinyl, in Oberbilk oder im gut sortierten Fachhandel!

Grüße aus Oberbilk Mrs. Cave and The Oberbilker

[1]  Siehe TERZ 10.2022
[2]  Ein kleiner transportabler Plattenspieler mit eingebauter Box
[3]  Siehe TERZ 09.2022